Die EM ist vorbei und wir sind Weltmeister! Juchu, und es gar nicht weh getan – also nur ein paar wenigen. Nach der EM sind alle froh, dass es keine Anschläge gab und es “nur” ein paar wenige Krawalle gab. Die Tagesschau schreibt hier auch selbst darüber:

Nach 30 Tagen und 51 Spielen in zehn Stadien wissen wir: Es hat alles geklappt. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Gewalt gab es trotzdem. In Marseille machten russische Hooligans Jagd auf Engländer, deutsche Hools prügelten sich unter der Reichskriegsflagge durch Lille.

Und hier ist noch ein Filmausschnitt zu sehen, der so auch um 13:15 Uhr im Fernsehen lief. Der prügelnde Trottel mit dem Hut wurde in verschiedenen Sendungen gezeigt, wie er auf einen am Boden liegenden Menschen eintritt. Im gleichen Filmschnipsel sind auch Retter zu sehen, wie sie einen Patienten mit Herzmassage auf der Straße reanimieren.

Muss ich das wirklich im Fernsehen sehen? Die (nicht vorhandene) Hemmschwelle von verschiedenen Medien, etwa bei dem Torero Anfang der Woche, den Zuschauern alles zu zeigen, spricht sehr für den Charakter dieser Medien. Menschen beim Sterben zusehen, in Zeitraffer. Über den Torero habe ich bei der Tagesschau spontan nichts gefunden, das ist zumindest ein kleiner Lichtblick.

Aber dennoch frage ich mich vor dem Hintergrund dieser wenigen Beispiele (und es gibt sicherlich viel mehr), ob ein Gesetz gegen Gaffer wirklich funktionieren kann. Erste Aktionen gibt es zum Glück bereits. “Bei der Tagesschau gucke ich den Sanitätern bei der Herzmassage zu, dann will ich das auch mal in echt sehen.”  Die Zustände müssen, wenn man den Berichten traut, dramatisch sein: Gaffer in der Fußgängerzone, die Rettungskräfte behindern und filmen.

Bei der leidigen Diskussion über Gamer und Gewalt hieß es gerne, die Spieler würden durch die Darstellungen auf dem Monitor desensibilisiert und stumpfen ab. Das ist ein paar Jahre her. Sind wir jetzt auf der Reizschwelle, das reale Gewalt und Leichen in den (Mittags-)Nachrichten akzeptabel sind?

Was meint Ihr? Seid ihr bei den gezeigten Szenen schon abgestumpft? Wollt Ihr das in der Tagesschau sehen? Was sagen die mitlesenden Sanitäter, wie sind Eure Erfahrungen? Oder brauchen wir die harte Abschreckung, was sagen Sozialwissenschaftler dazu?

Kommentare (8)

  1. #1 Roland B.
    Juli 12, 2016

    Gaffer gibt es schon lange, nicht nur den Verkehr auf der Autobahn behindernd, auch direkt die Rettungskräfte. Das liegt wohl im menschlichen Naturell, vermute ich. Schon im Zivildienst in den Siebzigern hab ich erlebt, daß sich die Gaffer die Nasen plattgedrückt haben an den Scheiben des RTW – heute sind die wohl längst mattiert.
    Gefilmt wurde damals natürlich nicht, das lag aber nicht an sinkenden Hemmschwellen oder so, sondern einfach an der fehlenden Technik.
    Ich bin mir nicht sicher, ob Leichen in den Nachrichten nur Neugier befriedigen oder ob sie nicht vielleicht doch auf die Realität aufmerksam machen (können), mehr als eine neutral gesprochen Aussage, daß da wieder mal so und soviel Leute getötet wurden.Wer bei einer Herzmassage zuschauen will, kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und sich bei den Rettungsdiensten zu einem Erste-Hilfe-Kurs anmelden, da darf man sogar selber massieren.

    • #2 Chris
      Juli 13, 2016

      Natürlich gab es schon immer Gaffer, und ja, die technische Ausstattung macht es einfacher. Aber ich glaube, oder hoffe, dass es mal eine andere Hemmschwelle gab.

  2. #3 Julian J.
    Juli 12, 2016

    Als Rettungsassistent erlebe ich Gaffer andauernd. Jeder hält sofort sein Smartphone drauf, nur um ja die besten Aufnahmen zu haben und diese dann, am besten noch unzensiert, auf Youtube hochladen zu können. Diese Gesellschaft wird immer enthemmter und mir geht es langsam auf die Nerven. Da muss der Soldat aus dem SAR (Rettunghubschrauber der Bundeswehr) erst mit der Waffe auf einen Passanten Zielen um ihn, unter Androhung von Gewalt, davon ab zu halten, in die Nähe des noch laufenden Heckrotors zu rennen, nur damit er einen Blick in den Hubschrauber erhaschen kann.
    Auf Autobahnen kommt es immer wieder auf der Gegenspur zu Auffahrunfällen, weil einige meinen, sie müssten gaffen und dadurch auf dem linken Fahrstreifen sehr langsam und unaufmerksam fahren.
    Eine Situation, an die ich mich noch gut erinnere, ist die einer kollabierten Person in einer Fußgängerzone. Diese Person hatte einen Herzinfarkt und wurde mitten in einer Fußgängerzone Reanimiert. Es standen viele Leute um die beiden Ersthelfer drum herum und filmten das Geschehen munter. Auch wir wurden gefilmt und immer wieder unterbrochen mit Aussagen ala ‘Das geht aber anders, das habe ich ganz anders gesehen’ und ‘Warum machen sie jetzt dieses oder jenes’
    Da mensch sich in dieser Situation dann neben dem Kampf um das Leben des Patienten nicht auch noch, höflich bittend, um die Gaffer kümmern kann, wird es manchmal etwas rau und ruppig. Aber selbst nach mehrmaligem Auffordern wird nur hämisch gegrinst und weiter unverfrohren draufgehalten. Der Gipfel ist aber erreicht, dass wir den RTW IMMER zuschließen müssen, da sonst jeder Mensch meint, er könnte da rein und sich alles in Ruhe anschauen und anfassen!
    Da ich hier mich aber nicht aufregen möchte, zurück zum eigentlichen Thema.
    Ich persönlich fand die Szenen in der Tagesschau nicht so dramatisch und finde es gut, dass auch gezeigt wird, was die Menschen da angerichtet haben. Ich denke, dass einige Leute, die mit Gewalt hantieren in der konkreten Situation einfach ihr Gehirn nicht einschalten.
    Ich finde, dass eine solche Reanimation die Bedrohlichkeit der Lage zeigt und, dass dort Menschenleben auf dem Spiel stehen. Wie der Vorposter schon angemerkt hat sagen Bilder halt mehr als es Zahlen tun. Es wurde mit genügend Abstand gefilmt und es war keiner zu erkennen.

    Nach den Schüssen auf Polizisten in Dallas ist auch eine Reanimation in der Ambulance gezeigt worden und ich persönlich störe mich daran nicht, solange keine Persönlichkeitsrechte verletzt werden.

    • #4 Chris
      Juli 13, 2016

      OK, Reanimation ist die eine Sache.
      Ja, das hat Konsequenzen, die über eine paar Schürfwunden hinaus gehen und da musste jemand reanimiert werden – kommt beim Zuschauer an.
      Ich bin mir aber eben nicht sicher, ob die Hemmschwelle nicht generell sinkt, wenn ich Menschen selbst bei der Tagesschau beim derben Prügeln und Sterben zusehen (muss).

  3. #5 Hobbes
    Juli 13, 2016

    Ich fahre selber ehrenamtlich im Rettungsdienst und kann die Aussagen von Julian J. zum Teil bestätigen. Vor allem das Auto abschließen ist schrecklich.
    Frühr musste man das nur wenn man in gegenden war in denen man Drogenabhängige vermutete. Mittlerweile überall wo ein paar mehr Leute vorbei kommen. Allerdings hat der Respekt gegenüber Polizisten/Ärzten etc. insgesammt stark abgenommen. Ein Zusammenhang mit “Generation Smartphone” glaube ich zwar auch, halte ihn aber nicht für gesichert.
    Ich wurde vor etwa 8 Jahren mal gefilmt wie ich einen Patienten (Autounfall) in den RTW geschoben habe. War dann bei RTL Punkt 12 zu sehen. Fande es damals eher lustig. Aber mit recht auf eigenes Bild etc. hat man es damals auch nicht so genau genommen.
    Zu der gesenkten Hemmschwelle:
    Ich höre oft von Leuten sie würden niemals im Rettungsdienst arbeiten. Schlimme Verletzungen sehen oder Tote. Im Fernsehen haben diese Leute damit aber kein Problem. Ich glaube durch die massive Präsenz von Filmen nimmt man die vermittelten Bilder nicht mehr als Realität wahr. Die Nachricht wird wohl für wahr gehalten, die Bilder aber unterbewusst nicht. Das Gegenbeispiel sind Gerüche. Hier reagieren Menschen extrem empfindlich sobald sie wissen was es ist. Blut oder verwesende Leichen empfinden viele als nicht schlimm (Eisengeruch oder ein leicht süßer Geruch, in etwa wie Maissilage) Sobald diese aber die Wunde oder die Leiche sehen müssen diese Würgen und bekommen den Geruch teilweise Tagelang nicht mehr aus der Nase.

    Das schlimmste was ich je riechen musste war eine Messiwohnung. Diese toppte alle anderen Messiwohnungen inklusive einer mit einer 6 Wochen alten Leiche.

  4. #6 lindita
    Juli 13, 2016

    Kann man das denn nicht geschichtlich betrachten?

    Früher wollten Menschen, dass die Köpfe öffentlich rollen, Menschen öffentlich hängen, Kindern, die was geklaut haben öffentlich ausgepeitscht, Frauen und Männer öffentlich geschteinigt…

    Gewaltfilme – ich denke nicht, dass Gewaltfilme uns machen. Sie werden gemacht, weil wir sie sehen wollen.

    Ich sehe auf YouTube, dass die Menschen barbarisch waren und barbarisch geblieben sind. Ethisch/politisch korrekte Filter in den Medien wie der Tagesschau verzerren die Realität.

    Es ist auch wie mit dem Frauenbild, nur weil ein paar Jahrzehnt die Frau “glücklich” kochen und putzen musste, soll das DIE Frauennatur sein.

    Das ist wie die Gläubigen, die bei jeder grösseren Naturgewalt von den Zeichen des Weltuntergangs reden, dabei kennt die Erdgeschichte noch viel schlimmere Ereignise und wir leben noch.

    Und jetzt behauptet jemand etwas, der ein Paar “rosa”, scheinbar (siehe ethische Filter) gewaltlose Jahre miterlebt hat, dass die Menschheit sich zum Schlechteren hin verändert.

    Da frag ich mich, will ich noch so eine Tagesschau sehen bzw lesen, die mir “ihre” Realität beibringt, die durch die Existenz der Parallelmedien wie YouTube ihre Glaubwürdigkeit riskiert?

    Ich habe meiner dreizenjährigen Tochter gezeigt, wie irgendwelche Typen bei den Demos in Frankreich die französische Polizei aus ihrem Auto rausräuchert, damit sie die Entscheidung der Polizei die Demo zu verbieten auch nachvollziehen kann. Demokratie ist nicht mit schwarz-weiss erklärt.

    Polizei in den USA auch “Schwarze” häufiger erschiesst, weil die Waffengesetze dort anders sind und dort Polizisten wirklich jeden Tag ihr Leben riskieren müssen. Ausserdem kennt man aus den Schlagzeilen Statistiken nicht. Dass sie lernt nicht schwarz-weiss aus den Schlagzeilen zu urteilen.

    Tagesschau ist sowieso nicht genug, um sich zu informieren, deshalb kann sie von mir aus für zarte, ethische Gemüter Bilder zensieren.

  5. #7 user unknown
    https://demystifikation.wordpress.com/2016/07/13/pokemonhype/
    Juli 13, 2016

    Ich vermute unsere große Neugier auf Katastrophen, Tod, Verletzungen usw. spielt in der Evolution eine wichtige Rolle und kommt daher so oft vor.

    Ich habe auf 2 Fahrraddemos erlebt, dass ein Radfahrer am Boden lag, drumrum eine große Traube an Leuten, die hinstarrten, aber es waren auch bereits Leute dabei, sich um die gestürzten zu kümmern. Mein erster Impuls war auch, stehen zu bleiben, erfahren was da los ist, wie es passiert ist. Dann fiel mir auf, dass das niemandem hilft, dass auch wahrscheinlich niemand was weiß, dass ich aber selbst so zum Hindernis werde und das beste ist, wenn alle weiterradeln. So rief ich ein tadelndes “nicht glotzen” in die Runde und fuhr weiter.

    Ich spekuliere mal wüst rum: Gefahr lößt in uns einen Adrenalinschub aus, sie macht uns hellwach, lässt uns sehr konzentriert sein und ist, wenn wir nicht wirklich bedroht sind, sondern nur Zeuge, ein eher angenehmes Gefühl. Und weil wir solche Situationen nur selten erleben sind wir untrainiert unser Verhalten rasch zu reflektieren und uns für vernünftiges Handeln und gegen den Reiz der Situation zu entscheiden.

    In gefährlicher Natur und Kultur ist es wichtig in Gefahrensituationen viele Informationen rasch aufzunehmen um daraus zu lernen. Wo ein wildes Tier ist, sind vielleicht mehrere, Wenn Geröll am Berg nachgibt und abrutscht ist der neue Standplatz vielleicht auch nur von trügerischer Sicherheit usw. . Wenn man weiß oder ahnt, wieso einen solche Situationen faszinieren kann man sich auch leichter losreißen.

    Im Vorabend, bei Brisant oder Hallo Deutschland werden, wenn ich da mal aus Versehen reinzappe, auch immer Katastrophen berichtet die sich in Oppeln und Moppeln ereignet haben, besorgte, varnende Mine beim Sprecher, ein Dach ist eingestürzt, ein Auto kam von der Straße ab, irgendwo brennts, ich soll alarmiert sein.
    Mit diesen Impulsen soll ich geködert werden aber 10 Minuten nach der Sendung hat man all das schon wieder vergessen. Wahrscheinlich ist es völlig irrelevant für mich.

    Die psychischen und biochemischen Phänomene sollte man erforschen und allgemeinverständlich publik machen – nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern so, dass sich die Gaffer selbst verstehen lernen.

  6. #8 Laie
    Juli 13, 2016

    Im Falle eines Falles ist schnelles Handeln erforderlich, um Leben zu retten. Führt nun Verböldungs-TV (passiv Blödes schauen) zur Passivität im realen Leben bei Ereignissen ausserhalb der gewöhnlichen Erwartungshaltung des bisher erlebten Ereignishorizonts?