Nowak, Tarnita und Wilson zeigen jetzt aber dass dies gar nicht nötig wäre, da sich die Sozialität auch durch natürliche Selektion erklären lässt. Laut den Autoren könnte Evolution von Eusozialität demnach eine Abfolge von mehreren Schritten sein, bei denen Verwandtenselektion gar keine Rolle spielen muss. Zuerst formen sich Gruppen in einer vielfältigen Population, die Eigenschaften haben, die das Zusammenleben fördern. Dies wurde schon häufig beobachtet; z.B. verhalten sich solitäre Bienen wie eusoziale, wenn sie experimentell zusammengebracht werden (sie führen ihre Arbeiten in Sequenz aus, was eine evolutionär spätere Kastenaufteilung fördern könnte). Als nächster Schritt erscheinen Mutationen (oder Gene werden stillgelegt), die z.B. das Abwandern reduzieren. Letztendlich entstehen neue Eigenschaften in der Gruppe; hier – und jetzt wird es knifflig – wirkt Selektion jetzt nicht mehr auf das Individuum sondern auf die Gruppe. Wilson befürwortet seit einiger Zeit das Konzept der Gruppenselektion. Im Paper erhält es jedoch nur einen Satz, wer mehr darüber lesen möchte muss schon andere Texte des Wissenschaftlers zu Rate ziehen (z.B. diesen Artikel aus dem Quarterly Review of Biology (PDF)).
Präadaptionen wie die sequenzielle Arbeitsabfolge der Bienen werden ständig bei sozialen Insekten gefunden. Und natürliche Selektion dieser Adaptionen können das Zusammenleben gefördert haben. Aus mathematischer Sicht (soweit ich das mit meinem beschränkten mathematischen Verständnis beurteilen kann) würde es Sinn machen, dass die hier angegebenen Hypothesen funktionieren. Doch ich denke nicht dass sich Eusozialität, die sich bewiesenermaßen mehrfach, separat in den verschiedensten Tiergruppen entwickelt hat, auf ein einfaches Konzept reduzieren lässt. Dazu meinen jedoch Nowak, Tarnita & Wilson:
Sie argumentieren dass die generelle Theorie der speziellen vorzuziehen sei. Ich würde darauf antworten, dass dies ganz stark von der Situation abhängt. Kann es nicht sein, dass Verwandtenselektion die Eusozialität von Hymenopteren erklärt, nicht aber von Termiten? Die Autoren geben mir im gleichen Absatz in gewisser Weise Recht:
Die Kontroverse
Natürlich tritt ein solches Paper erst mal viel los. Nature zitiert mehrere Wissenschaftler, darunter auch David Sloan Wilson, die nicht überzeugt sind, dass das neue Modell das Konzept der inklusiven Fitness völlig verdrängen kann.
Ich muss zugeben, dass ich jegliche Versuchserklärung für das Phänomen, dass Tiere ihre Reproduktionsfähigkeit komplett aufgeben, zu schätzen weiß. Darwin bereitete es schon Kopfzerbrechen, die Arbeiterkasten der sozialen Insekten zu erklären. Allerdings bin ich von diesem Paper enttäuscht. Nirgends gehen die Autoren darauf ein, dass Individuen ihre Reproduktionsfähigkeit aufgeben. Ihr vorgestelltes Modell erklärt nicht Eusozialität, sondern soziales Verhalten in der Gruppe. Die von E. O. Wilson selbst aufgestellten drei Voraussetzungen von Eusozialität (s.o.) werden durch das Modell nur teilweise erklärt.
Verwandtenselektion betrifft nicht nur den Altruismus, den Geschwister einander aufbringen. Auch elterliche Fürsorge fällt in die Kategorie. Wie erklärt ihr Modell warum sich Eltern bei vielen Tierarten um ihre Nachkommen kümmern?
Außerdem werfen sie mit dem Begriff „Theorie” für ein Nature-Paper sehr stark um sich. Klar und deutlich argumentieren sie, dass Inklusive Fitness keine Theorie darstellt, nur um sich selbst auf der gleichen Seite zu widersprechen indem sie es als alternative Theorie mit natürlicher Selektion vergleichen. Nowak, Tarnita und Wilson machen das Gleiche, was sie den Anhängern der Verwandtenselektion vorwerfen: Sie verallgemeinern und behaupten ihr neues Modell sei auf alle Bereiche anwendbar.
Ich denke aber so einfach ist das Thema nicht vom Tisch. Ihr Modell erklärt nicht wieso bei Bienen, Ameisen und Hummeln, Weibchen zu Arbeitern werden, aber nicht die Männchen. Ihrer Argumentation nach müssten beide Gruppen gleichermaßen in die Arbeiterkaste gebunden sein. Wie etwa bei den Termiten. Ich bin nicht überzeugt, dass ihre Theorie – genau wie Inklusive Fitness – nicht auch nur auf ein Subset of evolutionary models anzuwenden ist.
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