Jingle-Jangle
Der Sozialpsychologe Sam Gosling hat letztens auf einer Konferenz das hierbei bestehende Problem schön auf den Punkt gebracht, und dabei hat er gar nicht von Gruppenselektion geredet. Laut ihm gibt es in der Wissenschaft die Jingle Fallacy (verschiedene Wissenschaftler verstehen unter dem gleichen Namen verschiedene Sachen), und die Jangle Fallacy (das gleiche Konzept wird von verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlich benannt). Im Falle der Gruppenselektion ist es meiner Meinung nach ein Jingle-Jangle, mit Hang zum Jingle.
Der Begriff der Gruppenselektion ist mittlerweile so missverstanden dass seine Benutzung zwangsläufig zu Problemen führt. Häufig werden Wynne-Edwards und Wilsons Begriffe durcheinander geschmissen, nicht zuletzt von Wilson selbst. Außerdem wird Gruppenselektion gerne Verwandtenselektion gegenüber gestellt, als ob es bei beiden „Modellen” um verschiedene Sachen ginge. In Wirklichkeit ist Gruppenselektion nichts weiter als eine ganz spezielle Form der Verwandtenselektion, da genetische Korrelationen zwischen sozialen Partnern aus den verschiedensten Gründen auftreten können. Tatsächlich ist es in den meisten Fällen so, dass Gruppen im Tierreich stärkere Verwandtschaft untereinander aufweisen als mit geographisch getrennten, anderen Gruppen. Interessanterweise war Wilsons erstes Modell daher auch nur signifikant, wenn die untersuchten Gruppenmitglieder untereinander verwandt waren.
Auch andere Definitionen sind in diesem Disput von Bedeutung: Was ist eine Adaption, und auf welchem Niveau prägt sie sich aus? Was ist eigentlich Altruismus, direkte Fitness und wie unterscheiden sich Kosten und Einschränkungen bei Verhalten? Ab diesem Punkt nimmt ein großer Teil der semantischen Meinungsverschiedenheiten philosophische Ausmaße an und hat letztendlich auch nur noch einen philosophischen Wert. Die Stanford University hat dazu einen umfangreichen Artikel in ihrer Encyclopedia of Philosophy: Units and Levels of Selection.
In einem empfehlenswerten Mini-Review (PDF) haben sich die Autoren West, Griffin & Gardner von der University of Edinburgh mit den Problemen der Semantik in der Soziobiologie auseinandergesetzt.
Welchen Beitrag leistet Gruppenselektion?
Die Frage, die Biologen in erster Linie interessiert, ist eine ganz andere als die der Philosophen. Es ist egal wer Recht hat, und wer was missversteht; entscheidend ist wie gut Gruppenselektion als Modell funktioniert. Und genau da ist sie bisher gescheitert. Als Modell ist sie zu kompliziert um mit Verwandtenselektion mit zu halten. Verwandtenselektion ist ein ultimates Modell (im Gegensatz zu proximat), das beschreibt, ob ein soziales Allel sich in der Population ausbreitet. Es ist kein Mechanismus, der Sozialität fördert, sondern nichts weiter als eine Form der evolutionären Kontoführung, wie Mr. Wilson hier sehr schön erklärt. Als solches ist Verwandtenselektion einfach besser anwendbar[*] als Gruppenselektion, besonders da Wilson eingestanden hat, dass Gruppenselektion bisher nicht mit statistischen Modellen vereinbar ist.
Aus: A defense of reductionism in evolutionary biology, G. C. Williams, 1985
Was mich aber vielmehr interessiert, ist, ob Gruppenselektion überhaupt hilfreich ist. Ich bewege mich damit inhaltlich auf der gleichen Ebene wie Nowak et al. – nur frage ich nach einem anderen Modell: ist Gruppenselektion nötig, um Adaptionen und soziale Verhaltensweisen zu erklären? Oberflächlich macht Gruppenselektion Sinn, doch betrachtet man einzelne Fälle, findet man, dass viele allein mit Selektion auf das Individuum zu erklären sind. Das heißt: Oft ist nicht mal Verwandtenselektion nötig um gesteigerte Fitness in einem Fall zu finden. Erfolgreichere Gruppen sind in erster Linie deswegen besser angepasst, weil die Individuen dieser Gruppe besser angepasst sind. Die Aufteilung in „innerhalb der Gruppe” und „zwischen den Gruppen” ist völlig willkürlich, denn Selektionsdruck wirkt zwangsläufig auf beide. Es wäre Schwarz-weiß-Malerei, eine Eigenschaft zu wählen (oder vielleicht ein Gen für Altruismus) und zu fragen, ob der Selektionsdruck auf die Gruppe in diesem Fall stärker ist als der auf das Individuum. Die Interaktion in der Gruppe sowie mit Individuen außerhalb der Gruppe formt das Verhalten der Individuen völlig unabhängig vom Selektionsdruck auf die Gruppe.
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