Natürliche Selektion wirkt diesem natürlichen “Verfall” jedoch entgegen, indem sie gewisse Gene, die häufig und erfolgreich in einer Population vorhanden sind, allem Zufall zum Trotz stur in der Population behält. Ist es hilfreich für ein Insekt zu fliegen, dann werden die Gene, die den Flug ermöglichen (und dazu gehört neben dem Flügel der gesamte Flugapparat, inklusive der Muskulatur, den Sinneshaaren und Neuronen, die zur Orientierung beitragen etc.), überdurchschnittlich wahrscheinlich in der Population verweilen. Die Gene jedoch, auf die keine Selektion wirkt, fallen stärker unter die natürliche Mutationsrate.
Dann gibt es natürlich auch noch diese Gene, die unter gewissen Umweltbedingungen sogar schädlich für das Individuum sind. Ist durch einen Sturm vielleicht eine Insel fast vollständig entwaldet worden, hat der Wind einen viel größeren Einfluss auf die einzelnen dort lebenden Tiere. Es könnte demnach schädlich sein, wenn man dem Wind eine große Angriffsfläche bietet, weil man sonst statt in die Arme des Paarungspartners weit aufs Meer hinaus getragen wird. Gene, die Flügel begünstigen, würden auf diese Weise quasi schnell “wie der Wind” aus einer Population verschwinden.
Die Chance, dass ein Gen, welches nicht unter positivem Selektionsdruck liegt – die Anpassung an die aktuelle Umwelt also nicht unterstützt – viele Millionen Jahre in einer Population verweilt, ist entsprechend gering. Und doch tauchen Merkmale immer wieder auf, die eigentlich schon längst von uns Menschen als ausgestorben, oder verloren, gedacht waren.
Charles Darwin hatte dazu einen Kommentar in seinem “Abstrakt” von 1859:
Darwin sagt, es wäre wahrscheinlicher, dass ein Tier nicht plötzlich ein Merkmal seines Tausende oder Millionen Jahre toten Großvaters ausprägt, sondern das gleiche Merkmal erneut produziert. Sprechen wir dann von Re-Evolution? Ist an solch einem Prozess irgendetwas rückwärts Gerichtetes? Warum hat das Tier dieses Merkmal denn produziert? Es ist ziemlich sicher zu behaupten, dass eine Art, die ein Merkmal “neu entdeckt” hat, dies auf Grund der aktuellen Umweltbedingungen tut. Warum sollte sich ein Gen für Flügel in der Population durchsetzen, wenn der Wind die geflügelten Tiere immer noch von der Insel bläst? Und wenn ein Merkmal auf Grund von Selektionsdruck sich ausbreitet, dann ist das schlicht und einfach Evolution.
Re-Evolution ist meines Erachtens ein von uns geprägter Gedanke, bei dem wir so tun als ob der Flügel unseres seit Millionen Jahren toten Großvaters plötzlich wiederkehrte. Aber haben wir irgendeinen Grund, dies anzunehmen? Uns erscheint der Flügel vielleicht wie der von anderen verwandten Tieren. Vielleicht ist er auch bis ins Detail identisch mit den Flügeln, die bei verwandten Arten schon seit Millionen von Jahren existierten. Aber selbst dann ist es ein neu evolvierter Flügel.
Es sei denn …
Es sei denn, wir könnten nachweisen, dass die Gene, die für diesen Flügel verantwortlich sind, auch identisch sind mit denen der verwandten Arten. In diesem Fall wäre es wahrscheinlicher, dass ein Master-Gen nach all der Zeit wieder angeschaltet wurde. Ähnlich wie bei Drosophila Gene existieren, die – je nachdem wo im Körper sie exprimiert werden – entweder eine Antenne oder eine Bein produzieren, haben alle Organismen Gene, die nichts weiter tun als andere Gene ein- und auszuschalten. Wenn unsere Insekten ihre Flügel also verloren haben, benötigt es vielleicht nur dieses eine Gen, um die Flügel wieder zurück zu bringen. Vorausgesetzt, der Wald ist wieder gewachsen und schützt vor dem Wind, und vorausgesetzt, die Gene, die für Flügel notwendig sind, sind unterdessen nicht so verändert, dass sie keine Flügel mehr produzieren können.
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