Aber nun zum eigentlichen Standpunkt. Jerry Coynes Argumentation dreht sich dabei etwas im Kreis: Wir sind biologische Kreaturen, bestehend aus Molekülen, die den Gesetzen der Physik unterliegen. Die Moleküle bilden Neuronen, die wiederum Produkte von Genen und Umwelt sind. Erinnerungen und Gedanken sind strukturelle und chemische Veränderungen im Gehirn. Folglich ist eine Entscheidung, die wir treffen, abhängig von Genen, Umwelt und den molekularen Veränderungen, die in unserem Körper statt finden. “Wir” haben also keinen Einfluss darauf, was unser Körper tut.
Neurobiologen beschäftigen sich schon lange mit Motivation, Wünschen und Absichten, und mit den Prozessen, die dazu führen dass wir eine Entscheidung treffen. Wie fast jeder, der dieses durchgekaute Thema anspricht, benutzt auch Jerry Coyne die Libet-Experimente als Argument. Diese (sowie einige nachfolgende Experimente) zeigten, dass das Gehirn von Probanden deutlich früher (z.T. mehrere Sekunden) wusste, ob sie einen Knopf drücken würden, als die Probanden selbst. Die Entscheidung darüber, einen Knopf zu drücken, fiel also bevor es der Person bewusst war.
Der Fehler, den meiner Meinung nach Jerry Coyne und diejenigen machen, die aus den Libet-Experimenten irgendeine Form von Aussage zu freiem Willen ziehen, ist, dass sie uns von unserem Körper trennen. Gerade das finde ich bei dem Atheisten Jerry Coyne sehr überraschend. Es ist nicht möglich, unseren Geist oder unser “ich” über den Körper zu stellen. Er sagt dies sogar, aber anscheinend kommt er zu einem anderen Schluss als ich: “‘Wir’ sind einfache Konstrukte unserer Gehirne. Wir können dem Input in unser Gehirn keinen verworrenen ‘Willen’ aufzwingen.”
Ich würde behaupten, dass es schon deswegen nicht möglich ist, unserem Gehirn einen Willen aufzuzwingen, da wir unser Gehirn sind. Wir sind das Ergebnis von Genen (und dadurch von Tausenden von Jahren von Selektion) und von der Umwelt, in der wir aufwachsen und in der wir leben. Wenn irgendwer eine Entscheidung trifft, warum sollte das irgendjemand anderes sein als dieses Produkt, als dieses Gehirn, dieser Mensch?! Wen meint Jerry Coyne, wenn er sagt “wir” hätten keinen freien Willen?
Wer schon einmal Baseball gespielt hat, weiß, dass wir in der Lage sind, Entscheidungen zu treffen, ohne dass uns das bewusst ist. Es ist nicht möglich einen aus 18 Meter Entfernung geworfen Ball von etwa 90 Meilen/Stunde (ca. 40 Meter pro Sekunde) zu treffen, wenn unsere Arme warten würden, bis der Ball nahe genug ist, bevor wir unsere Entscheidung träfen. Der Entscheidungsprozess umfasst hier das Abschätzen der Flugbahn, die Bewegung der Arme und … der komplizierteste Teil … die aktuelle Spielsituation. Wenn all dies zusammen kommt, entscheidet ein Baseballspieler blitzschnell, ob und wohin und wie stark er den Ball schlagen möchte. Und diese Entscheidung machen wir, mache “ich,” denn ich bin nichts weiter als der schlaksige Typ auf dem Baseballfeld, das Bündel Neurone, Moleküle und Erfahrungen.
Der berühmte “Katzenfreund” Erwin Schrödinger sagte das ganz ähnlich:
— What is Life? (1944)
Am Ende versucht Jerry Coyne zu erklären, was es bedeuten würde, wenn wir keinen freien Willen hätten. Nicht viel, denn die Illusion eines freien Willens werden wir uns ja erhalten. Und was bedeutet es für Kriminalität, dass ohne freien Willen keiner mehr für seine Taten verantwortlich ist? Der einzige Grund, laut ihm, dann weiterhin Kriminelle zu bestrafen, ist dass diese Strafen den nicht-freien Willen anderer Menschen beeinflussen werden und diese dazu bringen, weniger Kriminell zu sein. Das widerspricht allerdings den Untersuchungen zum Thema Todesstrafe der letzten Jahrzehnte. Außerdem unterscheidet er zwischen guten und schlechten Taten, als ob sie in irgendeinem Buch nachzuschlagen wären und vergisst damit doch, dass die Welt, in der wir leben, wesentlich komplexer ist. Mir scheint es fast, als hätte er – um diesen Artikel schreiben zu können – den Werkzeugkoffer des Biologen komplett über Bord geworfen. Genau das ist es, was Jerry Coyne bei mir manchmal zum Pet peeve werden lässt.
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