Pikaia gracilens

Dieser “Wurm” war alles andere als häufig unter den Fossilien des Burgess-Schiefers. Walcott fand insgesamt nur 16 Exemplare – das sind etwa 0.03%. Seitdem sind noch einige dazu gekommen, aber auch heut sind es gerade mal 114. 1979 publizierte Simon Conway Morris die Ergebnisse seiner Analysen: Pikaia ist kein Wurm, sondern ein Chordatier. Dazu gehören in erster Linie die Wirbeltiere. Das bedeutet zwar nicht, dass der Pikaia aus Kanada der Vorfahre aller Wirbeltiere war, aber zu der Zeit gab es nach unserem Wissen nichts Vergleichbares. Stephen Jay Gould erklärt dies sehr schön im Epilog seines Klassikers “Wonderful Life,” in dem er sich ausführlich mit den Fossilien des Burgess Shales auseinander setzte:

Ich behaupte natürlich nicht, dass Pikaia selbst der Vorfahre von Wirbeltieren war, noch wäre ich töricht genug zu sagen, dass jegliche Chance auf eine Zukunft für die Chordatiere bei Pikaia im mittleren Kambrium läge; andere Chordaten, bislang unentdeckt, haben sicher die kambrische See bevölkert. Aber ich vermute, durch die Seltenheit Pikaias im Burgess-Schiefer und das Fehlen jeglicher Chordatiere in anderen Lagerstätten des Altpaläozoikums, dass unser Stamm nicht zu den großen kambrischen Erfolgsgeschichten zählte, und dass Chordaten in dieser Zeit einer unsicheren Zukunft entgegen sahen.

Der Grund, warum Pikaia als eines der ersten Chordatiere eingestuft wurde, war der Fund einer Chorda dorsalis. Die ersten Untersuchungen zeigten, dass Pikaia das besaß, was für Chordatiere namensgebend war. Die Chorda dorsalis findet sich auch heute noch bei Lanzettfischchen, wo sie eine elastische Achse von vorne bis hinten bildet und als eine Art Achsenskelett fungiert. Auch wir haben noch eine. Im Embryo von Schwein, Huhn, Dackel und Mensch (und allen anderen Chordatieren natürlich auch) ist die Chorda dorsalis ein elastischer Stab, der den Rücken durchzieht, und später durch die Wirbelsäule ersetzt wird. Diese Vor-Wirbelsäule findet sich nicht in Würmern, aber in Pikaia.

Jetzt hat Simon Conway Morris zusammen mit seinem Kollegen Jean-Bernard Caron endlich Pikaia seine eigene Publikation gewidmet. Dafür haben die Beiden sämtliche 114 in Museen vorhandene Exemplare genauestens untersucht und festgestellt, dass … die Chorda dorsalis gar keine Chorda dorsalis ist. Was ursprünglich dafür gehalten wurde, war in Wirklichkeit ein Organ, dass zwar dem Körper etwas Kraft gegeben haben mag, aber nicht die Funktion der Chorda erfüllte. Doch bevor wir jetzt alle anfangen, unsere Ahnengallerie komplett umzudekorieren: Es gibt trotzdem eine Chorda dorsalis, zumindest in manchen Exemplaren. Sie ist weniger stark ausgeprägt und in den Fossilien nicht so deutlich zu erkennen wie das dorsale Organ.

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Pikaia gracilens, fotografiert unter verschiedenen Bedingungen. In Abbildung A ist die Chorda dorsalis mit “No+Ne” markiert (für das englische Notochord), das dorsale Organ mit “DO” und die Myomere mit “M.” Der Kopf ist links. (Abbildung: Conway Morris & Caron 2012)

Was bedeutet das? Das dominante Merkmal Pikaias ist plötzlich größtenteils verloren? Die Autoren geben zu, dass die Identifikation der Chorda dorsalis recht kompliziert ist. Doch die Untersuchungen haben dafür andere Merkmale gefunden, die Pikaia dennoch zu den Chordatieren zählen lassen. Was Walcott einst für Körpersegmente gehaltene hat, ist in Wirklichkeit keine wie bei Würmern auftauchende Segmentierung. Bei Würmern entstehen die Segmente extern bei der Entwicklung, einer nach dem anderen, mit den ältesten Segmenten am Ende und den jungen Segmenten am Anfang der Wachstumszone. Bei Pikaia hingegen kommt der Schein einer Segmentierung durch Muskelgewebe. Dise Muskeln sind in einer Form angeordnet, wie sie in der Regel nur bei Chordaten auftaucht. Das charakteristische Zick-Zack-Muster taucht bei Myomeren auf, die man zum Beispiel besonders gut sehen kann, wenn man einen Fisch ausnimmt.

Ist Pikaia also ein Chordatier oder nicht? Die Autoren diskutieren diese Frage natürlich auch, aber mir scheint, die Sache ist nicht mehr so einfach zu klären. Das umfangreiche Detailwissen zur Morphologie Pikaias lässt es nicht mehr zu, ihn in eine einfache Kategorie zustecken. Wieso auch? Das über 500 Millionen Jahre alte Lebewesen lässt sich nicht einfach nach heutigen Maßstäben kategorisieren. Genau das hat auch Walcott versucht, als er seine Burgess-Fossilien ordnen wollte, was dazu geführt hat, dass die eigentlichen Entdeckungen Jahre später von Anderen gemacht wurden. Es läuft aber darauf hinaus, dass Pikaia eindeutige Merkmale eines Chordaten besitzt. Myomere und so etwas wie eine Chorda dorsalis traten zu dieser Zeit in keinem anderen Tier auf. Was sonst könnte Pikaia sein, wenn kein Chordat? Laut den Autoren würde jede andere Klassifikation Pikaia in ein “phylogenetisches Limbo” versetzen. Die Zuordnung Pikaias in die Chordatiere erscheint die einzig vernünftige Klassifizierung zu diesem Zeitpunkt.

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Kommentare (8)

  1. #1 MartinB
    März 27, 2012

    Ziemlich irre – die chorda dorsalis ist gar keine, aber es ist trotzdem eine da…

  2. #2 Christian A.
    März 27, 2012

    Jo moin, schöner Artikel! Mich interessieren solche Fossilien und die basalen Wirbeltiere immer sehr. Ich hab die Nahaufnahme eines Schleimaalmundes als Desktop-Hintergrund 🙂
    Kurze Anmerkung:

    Dieser “Wurm” war alles andere als häufig unter den Fossilien des Burgess-Schiefers. Walcott fand insgesamt nur 16 Exemplare – das sind etwa 0.03%.

    (8. Absatz) 0.03% von was? Ich vermute von allen gefundenen Fossilien, ist aber unklar!

    Davon mal abgesehen, ist es ja natürlich eine ziemlich verkürzte Sprechweise zu sagen “Wir waren alle mal Würmer.” (bringt’s natürlich aber auf den Punkt). Wenn man nicht eines der Stadien im Mutterleib als “Wurm” bezeichnet, dann weise ich den Anwurf, je ein Wurm gewesen zu sein entschieden zurück 😉

  3. #3 Nils
    März 27, 2012

    @Christian:
    Genau, so meinte ich das mit den 0,03%. 😉

  4. #4 JK
    März 27, 2012

    @ ChristianA: Viel empörender als dass wir mal Würmer waren, ist, dass uns die Würmer mal alle kriegen 😉

  5. #5 cydonia
    März 27, 2012

    Ich wollte vorhin angeln gehen….nach der Lektüre hab ichs gelassen……
    Schöner Post! Vielen Dank.

  6. #6 JK
    März 27, 2012

    @ cydonia: Ich bedanke mich für diese pietätvolle Rücksichtnahme auf meine Vorfahren. Obwohl: waren wir nicht auch mal Fische?

  7. #7 BreitSide
    März 29, 2012

    Waren wir nicht alle ein bisschen Bluna?

    Chorda dorsalis, das klingt mir ganz nach einem griechischstämmigen Schlagersänger, der im Dschungel die – richtig, Würmer – fütterte.
    Oder nach einem gestrandetes Kreuzfahrtschiff…

  8. #8 BreitSide
    März 29, 2012

    …gestrandeten