Ohne an anderen Ecken Kritik ausüben zu wollen, aber in puncto Gleichberechtigung hinkt die Schweiz doch öfters Rest-Europa hinterher. Das Wahlrecht erhielten die Eidgenössinnen erst 1971, die gesetzliche Gleichberechtigung gibt es erst seit 1981 und der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche ist erst seit sechs Jahren straffrei.
“Erst wenn die Masken zwischen den Geschlechtern einmal fallen, dürfen wir auf gesündere Zustände hoffen,” kommentierte eine Schweizerin, die wusste, wovon sie sprach: Emilie Kempin-Spyri war die erste Juristin ihres Landes. Und erhielt als Frau keine Arbeitserlaubnis.
Die Tochter eines Pfarrers wurde am 12. April 1853 in Altstetten bei Zürich geboren. In ihrer Familie erlebte Emilie Spyri zunächst keine Ermutigung, als Frau einen Beruf zu lernen. Zwar wurde ihre Tante Johanna Spyri als Autorin der Heidi-Romane berühmt – aber auch sie pflegte ein eher konservatives Rollenbild und unterstützte die Pläne ihrer Nichte einen “Männerberuf” zu ergreifen nicht. Auch Emilies Vater verachtete ihre Entscheidung zeitlebens.
Erst als Emilie Spyri ihren zukünftigen Mann Walter kennenlernte, fand sie Unterstützung für ihr Vorhaben. Walter Kempin war Theologe und maßgeblich an der Einrichtung des Schweizerischen Roten Kreuzes beteiligt. Er brachte Emilie Latein bei und ermutigte, sich weiterzubilden. Nachdem sie drei Kinder (Gertrud, Robert und Agnes) auf die Welt gebracht hatte, immatrikulierte sich Emilie Kempin-Spyri mit 31 Jahren an der Universität Zürich.
In den folgenden Jahren war Emilie extremer Doppelbelastung ausgesetzt: Neben ihrem Jurastudium versorgte sie ihre fünfköpfige Familie. Zudem waren die Finanzen knapp. Hilfe und Unterstützung für die Kempins gab es keine: Da viele Freunde und ihre Eltern sich von Emilie abwanden waren sie auf sich alleine gestellt.
1887 dann schloss sie ihr Studium mit “summa cum laude” ab. Ihren ersten Prozess jedoch führte sie nur in eigener Sache: Laut der Schweizer Bundesverfassung waren zwar nur “Schweizer” als Anwälte zugelassen, Emilie Kempin-Spyri verwies jedoch darauf, dass dies ein generisches Maskulinum sei und Schweizer demnach auch weiblich sein könnten. Ihre Klage wurde abgewiesen, ihre Begründung sei “ebenso neu als kühn” hieß es.
Kurzerhand wanderte die gesamte Familie nach Amerika aus. In New York gründete Emilie das “Women Law College”, eine Rechtsschule für Frauen. Die New York Times schrieb dazu 1889, dass Kempins Anliegen nicht etwa sei, männliche Anwälte zu verdrängen, sondern vielmehr Frauen, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssten, zu unterstützen.
Walter Kempin konnte sich indes nicht in New York einleben. Seine Versuche, als Journalist zu arbeiten, scheiterten und so kehrte er 1891 gemeinsam mit seinem Sohn nach Zürich zurück. Da ihr viel am familiären Zusammenhalt lag, folgte Emilie ihm mit den Töchtern wenige Monate später. Zurück in der Schweiz konnte sie jedoch nach wie vor nicht als Anwältin praktizieren, auch Walter fand keine Arbeit und schließlich trennte sich das Paar 1896. Während die Kinder bei einer befreundeten Familie unterkamen, verließ Emilie Kempin-Spyri die Schweiz und ging nach Berlin, in der Hoffnung, dort endlich eine eigene Anwaltskanzlei eröffnen zu können.
In Berlin hielt Emilie Vorlesungen über internationale Rechtsprobleme – zugleich war sie jedoch von allen Seiten Kritik ausgesetzt. Männer konnten sich mit der Juristin in den eigenen Reihen nicht anfreunden, eine Affäre mit dem Schriftsteller Mathieu Schwann endete in einer vernichtenden Streitschrift seinerseits über “Frauenemancipation”, aber auch Frauenrechtlerinnen hatten ihre Probleme mit Kempin: Zu unpolitisch war ihre Haltung, nicht radikal genug ihre Forderungen.
Nach nur drei Jahren alleine in Berlin erlitt Emilie Kempin-Spyri einen Nervenzusammenbruch, der sie ins gesellschaftliche Abseits beförderte. Von einer Berliner Nervenheilanstalt wurde sie nach Basel abgeschoben, jegliche Gesuche nach Zürich verlegt zu werden, wurden ignoriert. Es ist unklar, wie ihr Krankheitsbild zu diesem Zeitpunkt aussah und ob eine ständige Stationierung von Emilie wirklich nötig war. Am 12. April 1901 starb sie an Gebärmutterhalskrebs in Basel – allein und anonym.
In den folgenden Jahren war Agnes Kempin bemüht, jegliche Spuren ihrer Mutter zu verwischen und Briefe, Zeugnisse und Krankenakten zu vernichten. Erst in diesem Jahr ehrte die Universität Zürich ihre erste Juristin mit dieser überdimensionalen Chaiselongue, die von der Künstlerin Pippilotti Rist entworfen wurde.
» Weiterlesen: die Serie mit Porträts herausragender Wissenschaftlerinnen.
Kommentare (1)