Prof. Dr. Gabrielle Spiegel ist Inhaberin der Krieger-Eisenhower-Professur an der Johns Hopkins University in Baltimore, Maryland. 2008 stand sie ein Jahr der American Historical Association vor, dem wichtigsten Historikerverband in den Vereinigten Staaten.
Ihre Forschungsschwerpunkte liegen zeitlich auf der Geschichte des Mittelalters in Frankreich sowie der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, zu welchen sie mehrere Publikationen veröffentlicht hat. Auf dem diesjährigen Historikertag in Berlin sprach sie als Eröffnungsrednerin über die Möglichkeiten und „Grenzen” der thematischen Ausrichtung der Tagung und die deutsch-amerikanischen Beziehungen, die sie auch persönlich geprägt haben. Die USA sind in diesem Jahr Partnerland auf dem Historikertag.
ScienceBlogs: Welche Erwartungen haben Sie im Hinblick auf den Historikertag?
Prof. Dr. Gabrielle Spiegel: Diese Tagung verspricht eine großartige Veranstaltung zu werden, mit großartigen Beiträgen und einer großen Vielfalt an Themen, insbesondere im Hinblick auf das Verständnis von „Grenzen”. Dieser Begriff ist enorm weit gefasst und beinhaltet genauso gedankliche wie geographische Grenzen. Zudem bringt diese Tagung eine beträchtliche Menge an Menschen zusammen.
SB: Inwiefern sind diese Fragestellungen auch für Ihre Forschungsarbeit von Bedeutung?
Spiegel: Eigentlich arbeite ich zum französischen Mittelalter, das noch keine Grenzen kannte. Dennoch sind einige dieser Thematiken genauso auf das Mittelalter, vor der Gründung der Nationalstaaten, anwendbar. Ich habe immer angenommen, dass die vormoderne und die postmoderne Epoche mehr miteinander gemein haben als mit der Zeit des Nationalstaates. Die Themenwahl ist also nicht verwunderlich. Es gibt sicherlich einige Parallelen zwischen den beiden.
SB: Sehen Sie eine moralische Verantwortlichkeit der Geschichtswissenschaften?
Ich glaube, dass Geschichte im Grunde einen moralischen Kern hat, sowohl im Augenglick als auch in der Zukunft.
Spiegel: Absolut. Ich glaube, dass Geschichte im Grunde einen moralischen Kern hat, sowohl im Augenblick als auch in der Zukunft. Ich bin nicht sicher, ob man direkte Lehren aus der Vergangenheit ziehen kann und denke auch nicht, dass dies die generelle Ansicht ist. Andererseits ist es äußerst gefährlich, in der Gegenwart zu agieren, ohne die Vergangenheit im Blick zu haben. Frühe Strukturen haben schon damals die Vergangenheit bestimmt und sind die Grundlage der Welt, die wir heute kennen. Es gibt jedoch keine Eins-zu-eins-Zweckmäßigkeit dieses Vergangenheitsverständnisses. Nichtsdestotrotz ist es ebenso gefährlich, die Vergangenheit ganz auszusparen.
SB: Inwiefern sehen Sie die Vorbelastung der deutschen Geschichte als Herausforderung an die junge Generation, auf die Vergangenheit nicht mit Desinteresse und Ignoranz zu reagieren? Was meinen Sie, welche Verantwortung hat die deutsche Jugend gegenüber der Geschichte?
Ich denke, dass Deutschland mehr als jede andere Nation mit seiner Vergangenheit gerungen hat.
Spiegel: Ich selbst komme aus einer Flüchtlingsfamilie, die während des Krieges in die Vereinigten Staaten ausgewandert ist. Das ist also eine Frage, mit der ich mein ganzes Leben gelebt habe. Ich denke, dass Deutschland mehr als jede andere Nation mit seiner Vergangenheit gerungen hat. Ich glaube auch, dass es für die Deutschen eine fast genauso traumatische Vergangenheit war wie für die Juden. Zweifellos ist die Frage nach der Vergangenheitsbewältigung eine Generationenfrage. Um die meisten Traumata zu überwinden, sind mit Sicherheit drei Generationen nötig.
Das trifft, denke ich, auch auf Deutschland zu. Die Frage nach der Verantwortung ist immer sehr schwierig. Die Deutschen haben sich, mehr als alle anderen Nationen, zu ihren Taten bekannt und mit ihrem Vermächtnis gekämpft. Es ist keine Angelegenheit, die sich automatisch von selbst löst. Genauso wie es Generationen braucht, das Trauma des Opfers und des Verfolgers zu überwinden. Es ist gewiss das Erbe des Zweiten Weltkriegs, das im geteilten Deutschland weiterlebte. Es lebte in dem Selbstverständnis der Deutschen weiter. Es ist sehr einfach zu behaupten, dass man nichts mit der Vergangenheit zu tun habe, aber richtig ist diese Ansicht nicht.
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Das Gespräch führten Elena Allendörfer und Christina Thenuwara.
Elena Allendörfer ist Studentin an der Universität Heidelberg im Fach “Global History”. |
(Redaktion: KP/MS/CJ)
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