In den Debatten um die Ausweitung der Europäischen Union sowie die außenpolitische Präsentation eines starken und geeinten Europas wird immer wieder auf die Geschichte Europas rekurriert. Doch wovon sprechen wir dabei überhaupt?

i-d61096592bbccec166ffcc026eb355b8-Europa.jpgVon Gina Fuhrich

Der Beck-Verlag hat sich deshalb entschlossen, mit „Geschichte Europas” und „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert” zwei Buchserien zum Thema zu veröffentlichen und diese in einer Podiumsdiskussion mit den Autoren Wlodzimierz Borodziej, Marie-Janine Calic, Andreas Fahrmeir, Ulrich Herbert, Harmut Leppin und Luise Schorn-Schütte sowie dem Verleger Sebastian Ulrich vorzustellen. Die Reihen haben zwei unterschiedliche Konzepte, beschäftigen sich aber beide mit dem Thema, wie man europäische Geschichte schreiben soll. Zunächst stellt sich die Frage, was Europa eigentlich ist. Lediglich eine Idee oder durchaus ein gemeinsamer Integrationsraum? Die jeweiligen Autoren der Bücher stellten ihre Arbeit vor und begründeten ihren spezifischen Ansatz.


Zuerst äußerte sich der Verleger Helmut Ulrich zu der Reihe „Geschichte Europas”. Er räumte ein, dass es durchaus politische Anreize gäbe, eine gemeinsame Geschichte Europas zu schreiben, die den Zusammenhalt Europas stärken und die Erweiterung der Europäischen Union legitimieren würde. Allerdings ist Erinnerung der Vergangenheit für Ulrich deutlich mehr als nur gemeinsamer Handel und verbundene Wirtschaftsräume.

Es ist Zeit, die Geschichte Europas jenseits der nationalstaatlichen Perspektive zu erzählen.

Vor allem in der europäischen Öffentlichkeit besteht das Bedürfnis zu wissen, was europäische Geschichte ist, so Ulrich weiter. Die Bücher haben daher folgende Charakteristika: Sie stellen eine integrierte Geschichte Europas dar und keine nationale. Desweiteren werden keine gewünschten politischen Annahmen wiedergegeben, wie der uneingeschränkte Zusammenhalt der Europäer über Jahrhunderte, sondern der Wandel in der beispielsweise geografischen Definition Europas und die sich verändernden Beziehungen und Interessen dargestellt. Überdies wird auch die Wahrnehmung Europas in der Welt mit einbezogen. Insgesamt soll die Buchreihe einen kritischen Beitrag zur Selbstverständigung für Europa leisten und kein normatives, statisches Konzept liefern, so Ulrich.

Der Beginn Europas in der Antike

Die europäische Geschichte beginnt in der Antike. In dieser Zeit existierte bereits der Name Europa einerseits in der griechischen Mythologie, in der Europa die Geliebte von Zeus ist und anderseits auch als geographische Bezeichnungen beispielsweise im asiatischen Raum. Allerdings, so Hartmut Leppin, bestanden zu dieser Zeit noch keine gemeinsamen europäischen Werte. Für ihn war es wichtig zu betonen, dass die Antike nicht nur abgeschottet in Europa stattfand, sondern durchaus Kontakte zum Islam und zum Orient wie beispielsweise Ägypten sowie zur jüdischen Religion bestanden.

In der Frühen Neuzeit dehnte sich Europa immer weiter aus, so Luise Schorn-Schüttel. Es existierte ein gemeinsamer innereuropäischer Handel. Zu dieser Zeit sollte Europa eine Einheit der Christenheit symbolisieren, trotz den Konfessionskriegen. Im 16.-17. Jahrhundert, so Schorn-Schüttel, also schon vor der Bildung von Nationalstaaten, gab es bereits gemeinsame europäische Werte, wie beispielsweise die Monarchie oder die Ständegesellschaft. Nach Napoleon 1815 begann eine neue europäische Entwicklung durch den Kolonialismus und Imperialismus. Allerdings gab es trotz dieser Gemeinsamkeiten durchaus konkurrierende Ansichten in den europäischen Ländern, erklärte Andreas Fahrmeir. Zudem setzte laut Fahrmeir zu dieser Zeit eine unterschiedliche Entwicklung innerhalb Europas ein.

Unterschiede und Gemeinsamkeiten

Nun schließt sich die Vorstellung der Buchreihe „Europäische Geschichte im 20. Jahrhundert” an. Ulrich Herbert hält das gemeinsame Europa eher für ein Versprechen und beanstandet ein stark national geprägtes Bewusstsein. Allerdings, so Herbert weiter, reicht ein nationaler Raum nicht aus, um die Phänomene des Imperialismus oder totalitäre Ideologien zu erklären. Trotz des Dilemmas, dass durch den gegebenen Nationalstaat und die europäische Einheit entsteht, stellt der Nationalstaat für Herbert keine Verirrung dar. Die Grundüberlegung seines Buches war, die Zeit zwischen 1890-1914 als Explosionszeit der Moderne zu bezeichnen. Zudem versuchten die jeweiligen Autoren durch Querschnitte in weniger geschichtsträchtigen Jahren einen Vergleich zwischen den jeweiligen europäischen Ländern beispielsweise in Kultur und Politik zu ziehen. Somit wird keine nationale Geschichte geschrieben.

Wlodzimierz Borodziej, der Autor des Buches Polen, sieht aber durchaus Gemeinsamkeiten in den europäischen Ländern. Viele Erfahrungen, wie der Nationalstaat, die Demokratie oder die Weltkriege, wiederholten sich. Marie-Janine Calic, die ihr Buch über Buch Jugoslawien vorstellte, erläuterte drei Grundprobleme in diesem Raum. Einerseits die ethnische Diversität des ehemaligen Staates, die durch Interessensgegensätze Konflikte begünstigte, andererseits, dass Osteuropa meist als rückständig angesehen wird und überdies in diesem Raum über Jahrhunderte hinweg aufgrund von Großmachtinteressen andere Mächte präsent waren.

Haben Nationalstaaten eine Zukunft?

In der abschließenden, von Johan Schloemann (Süddeutsche Zeitung) geleiteten Podiumsdiskussion wurde über den Nationalstaat und den Terminus des Fortschritts debattiert. Allgemein gilt der Nationalstaat in der deutschen Forschung als überholt und als ein Konstrukt. Allerdings ist für Borodziej klar, dass die Idee eines gemeinsamen Europas bis jetzt nicht die Idee des Nationalstaates ersetzt. Für ihn und Fahrmeir sind die Geschichte Europas und die Geschichte des jeweiligen Nationalstaats eher als Parallelentwicklung anzusehen.

Ulrich Herbert erklärt, dass es gemeinsame europäische Entwicklungen gibt, die allerdings in nationale Ereignisse und Kontexte transferiert werden, wodurch dieses gemeinsame Ereignis eine nationale Erfahrung wird. Luise Schorn-Schüttel spricht sich gegen den Nationalstaat aus. Europa wäre schon in der Frühen Neuzeit vor dem Aufkommen der Nationalstaaten unter unterschiedlichen Herrschaftsstrukturen geeint gewesen. In der Debatte um den Terminus des Fortschritts hält Herbert die zweite Hälfte des 20. Jahrhundert für den Aufstieg Europas.

Allerdings ist für alle Diskussionsteilnehmer klar, dass Fortschritt eine Definitionsfrage ist und keine normative Tradition beinhaltet. Es besteht ebenso keine lineare Entwicklung.
Das Plenum forderte eine internationale europäische Buchreihe mit internationalen statt ausschließlich deutschen Autoren. So könnten Selbstverständlichkeiten, die in den einzelnen Nationen vorherrschten, von Außenstehenden überhaupt erst erkannt werden. Auffällig ist außerdem, dass die Reihe keine Bücher über Griechenland oder skandinavische Länder umfasst.

(Redaktion: KP/MS)