Die im 20. Jahrhundert massiv vorangetriebene Europäisierung hat ganz unterschiedliche Entgrenzungsprozesse in Gang gesetzt. Der Euro als gemeinsame Währung vieler europäischer Staaten ist dafür ein Beispiel. Transnationale und internationale Zusammenarbeiten haben an Bedeutung gewonnen und verlangen auch von nationalstaatlichen Institutionen, sich selbst im globalen Kontext zu verorten. Die Vergemeinschaftung einzelner Akteure kann dabei Aufschluss über den gegenwärtigen Europäisierungsgrad geben und auch insgesamt zur Europäisierung der Gesamtbevölkerung beitragen.

i-593ffead5a7ae79a56a1a5115015f805-Roemische_Vertraege.jpgVon Maria Neumann

Der Frage, inwiefern diese grenzüber-schreitenden Kooperationen dabei auf die politischen Parteien übergegangen sind, widmete sich am Donnerstagvormittag ein Panel des 48. Historikertages.

Die Formierung von Parteiorganisationen auf der europäischen Ebene ist generell eine junge Entwicklung, die bislang wenig erforscht wurde. Grundsätzlich sind politische Parteien nationalstaatlich verfasst und in der Parteiengeschichtsschreibung dementsprechend ebenfalls im Fokus des Nationalstaates etabliert. * Das Foto rechts zeigt den Saal der Kapitolinischen Museen, in dem 1957 die Römischen Verträge unterzeichnet wurden.


In einem ersten Abschnitt der Sektion sollten daher zunächst einzelne Parteienfamilien unabhängig voneinander betrachtet werden, wobei vor allem deren institutionelle und organisatorische Strukturen im Blickpunkt standen.

Im zweiten Teil hingegen standen vorrangig interdisziplinäre Zugänge im Zentrum der Ausführungen. An dieser Stelle galt es insbesondere, den Nutzen aus der Verbindung sozial- und geschichtswissenschaftlicher Methoden zur besseren Analyse politischer Vereinigungen und ihrer Wirkkräfte zu diskutieren.

Welches Potential haben transnationale Parteiorganisationen?

Alle Ausführungen waren dabei letztlich auf folgende Fragestellungen ausgerichtet: Wie ist das Potenzial transnationaler Parteiorganisationen grundsätzlich zu eruieren und schließlich zu bewerten? Welche Funktionen übernehmen parteipolitische Zusammenarbeiten dieser Art? Welche Möglichkeiten und Grenzen beinhaltet eine solche Kooperation?

Diese Fragen formulieren dabei eine Zielsetzung, die – konsequent verfolgt – auch bedeutet, dass sich die Grenzen zwischen Wissenschaft und politischer Praxis öffnen müssen und nicht weiterhin strikt auf veralteten Frontverläufen beharren können.

i-c673c4fe75ca3eb49787329e1e547c64-EPP.jpgKonservative Initiativen

Eine der großen historischen Parteienströmungen Europas, die sich aus den christdemokratisch-konservativen Parteien zusammensetzt, hat Michael Gehler, Professor für Geschichte an der Universität Hildesheim, vorgestellt. Er hat darauf verwiesen, dass sich zwar insbesondere nach 1945 zahlreiche Parteienkooperationen aus diesem Milieu heraus formierten, diese aber immer wieder an mangelnder Relevanz scheiterten, da interne Differenzen bezüglich der ideologischen Ausrichtung oder die Logiken nationaler Parteienpolitik die Zusammenarbeit erschwerten. Zu Triebkräften solcher transnationalen Vereinigungen, wie der „Europäischen Union Christlicher Demokraten” (EUCD) oder der „Europäischen Volkspartei” (EVP/EPP) entwickelten sich hingegen gemeinsame Kongresse und Wahlkampagnen sowie Einzelpersönlichkeiten. Trotz der genannten, vor allem anfänglichen Schwierigkeiten expandierten die einzelnen christlich-konservativen Interessengruppen aber weiter und fusionierten nach dem Ende des Kalten Krieges.

Liberale Bestrebungen

Eine ähnliche Entwicklung lässt sich bei Kooperationen liberaler Parteien beobachten, die Professor Guido Thiemeyer im Rahmen seines Kurzreferates erläuterte. Auch er berichtete von der Existenz lockerer Verbindungen und Zirkel über einen langen Zeitraum, die, ähnlich wie bei den christlich-konservativen Parteien, vornehmlich durch Politiker besetzt wurden, die auf der nationalen Ebene die zweite Reihe bildeten. Diese Institutionen dienten dem Meinungs- und Erfahrungsaustausch, führten jedoch bei inhaltlichen Fragen meist nicht über oberflächliche Formelkompromisse hinaus. Nur in den Punkten Antikommunismus und Antitotalitarismus war das liberale Band wirklich einig. Der Beschluss zur Direktwahl der Abgeordneten des Europäischen Parlaments in den 1970er Jahren brachte jedoch eine neue Dynamik in die liberale Zusammenarbeit auf europäischer Ebene. 1970 trafen sich führende Parteipolitiker auf der „Liberalen Parteiführerkonferenz”. Danach partizipierte die Politprominenz der nationalen, liberalen Parteien vermehrt und fortwährend an transnationalen Themen.

i-4a6139627b652b8c338a70c9c1ff78c7-SDP.jpgSozialisten/Sozialdemokraten als Pioniere

Die mit Abstand ältesten Traditionen bei länderübergreifenden Kooperationen haben die sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien. Seit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins 1863 gab es immer wieder Grundbekenntnisse zu grenzüberschreitenden Beziehungen. Bis 1945 gelang jedoch trotz aller Deklarationen keine Festlegung auf gemeinsame Ziele und Programme, wie Jürgen Mittag, Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen, überzeugend schilderte. Als sich nach dem Zweiten Weltkrieg erste supranationale Organisationen etablierten, fiel es dabei sogar insbesondere der deutschen Sozialdemokratie schwer, sich zu integrieren.

Willy Brandt trug entscheidend dazu bei, dass der Kurs sich änderte und die anfängliche Skepsis, euphorischen Momenten wich. Gleichzeitig ist hervorzuheben, dass die Sozialistische Internationale schon 1962 ein gemeinsames Aktionsprogramm erarbeitete und die Bedeutung einer übernationalstaatlichen Perspektive für die sozialistischen/sozialdemokratischen Parteien in Europa unterstrich. Diese allgemein zunehmende Verdichtung parteipolitischer Zusammenarbeit, darauf hat Mittag eindrücklich verwiesen, kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass tatsächlich schlagkräftige Parteien auf der europäischen Ebene in naher Zukunft noch nicht zu erwarten sind.

Kooperationen extremistischer Strömungen

Der Vortrag von Janosch Steuwer, Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte der Ruhruniversität Bonn, widmete sich thematisch den extremen politischen Strömungen, die in nationalen Parlamenten, anders als die etablierten Parteien, meist eine besonders marginale Stellung einnehmen. Dabei bezog sich der Referent exemplarisch auf die Kooperationen rechtsextremer Parteien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem politischen Spektrum lässt sich ein umgekehrter Trend verfolgen. Während nach 1945 vielfältige transnationale Beziehungen und Kooperationen vorherrschten, zersplitterten diese Verbindungen in den folgenden Jahrzehnten allmählich. Der Organisationsgrad der Strukturen sank, die Bildung einer Wahlplattform scheiterte. In den 1980er Jahren erlebten die nun vorwiegend als rechtspopulistisch titulierten Parteien einen neuen Aufschwung. 1984 bildeten sie im Europäischen Parlament erstmals eine eigene Fraktion. Diese neuen Kontakte unterscheiden sich jedoch von den Plattformen der 1950er Jahre. Nicht mehr die programmatischen Übereinstimmungen stehen im Vordergrund der Zusammenarbeit, vielmehr wird die nationale Einigung der einzelnen Parteien unterstrichen. Eine gemeinsame europäische Basis rechtsextremer Parteien existiert nicht, einzelne Politiker/Delegationen besuchen sich zu informellen Gesprächen.

Neben den inhaltlichen Differenzen werden die Mitglieder der einzelnen extremen Parteien in einigen Ländern aufgrund sicherheitspolitischer Überlegungen auch mit anderen Problemen konfrontiert. So verbieten einige Staaten Rechtsextremen, die beispielsweise Hetzkampagnen gegen Ausländer betreiben, aufgrund sicherheitspolitischer Bedenken die Einreise.

Dennoch kann die Abnahme transnationaler Zusammenarbeit rechtsextremer Parteien auf Parteiveranstaltungen nicht zwangsweise zu der Annahme führen, dass rechtsextreme Kreise verschiedener europäischer Länder kaum mehr miteinander kooperieren, vielmehr haben sich für diese Zwecke neue Plattformen gefunden, die mit einbezogen werden müssen, wenn der Organisationsgrad rechtsextremer Gruppierungen analysiert wird.

Wissenschaft meets Praxis

An diesem Punkt endeten die theoretischen Ausführungen dieser Historikertagssektion – zumindest vorerst. Nun wurde die Veranstaltung tatsächlich politisch. Professor Christoph Zöpel berichtete von seinen langjährigen praktischen Erfahrungen in der nordrhein-westfälischen SPD und bei der Sozialistischen Internationalen (kurz: SI) – ein bisschen Wahlkampf inklusive. Er hob vor allem die Funktionen dieser parteipolitischen Kooperation, die sich aus 140 Mitgliedern zusammensetzt, hervor. Dabei verwies er vor allem auf die Einflussnahme der SI auf internationale Institutionen oder ihre Vermittlerrolle bei bilateralen Konflikten.

Die Wiedergründung der SI nach dem Zweiten Weltkrieg war 1954 erfolgt. Fortan weitete sie sich zur internationalen Organisation aus, die sich längst vom rein europäischen Weg gelöst hat und globalpolitische Prozesse verfolgt und mitgestaltet. Inwieweit die SI mit ihrem Programm dabei tatsächlich Entscheidungen beeinflussen kann, wird nachzuweisen sein. Fest steht, dass die Generaldirektoren der WTO, des IWF und des UNHCR gegenwärtig allesamt ausgewiesene Sozialdemokraten sind.

Perspektive der Netzwerkforschung

Den Abschluss dieses Panels gestaltete – wieder weit theoretischer – Christian Salm, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität von Portsmouth. Salm skizzierte die modernen methodischen Ansätze der Netzwerkforschung und ihren möglichen Beitrag zur historischen Studie. Qualitativ könnten, nach Salm, politikwissenschaftliche Instrumente soziale Strukturen von Netzwerken eruieren und quantitativ den Organisationsgrad der jeweiligen Kooperationen ermitteln. Diese Erkenntnisse könnten weiterführend helfen, die nationalstaatlich geprägte europäische Geschichtsschreibung zu überwinden und flexibler den Einfluss staatlicher und nicht-staatlicher Akteure nachzuvollziehen. Der Nachteil dieses Verfahrens ist, dass die Netzwerkkonzepte selbst immer wieder an die entsprechende Fragestellung angepasst werden müssen.

Parteikooperationen sind im politischen Europa-Alltag noch immer weitgehend irrelevant

Die vorangegangenen Ausführungen stützen bereits eingangs erwähnte Vermutungen und Befunde. Die Praxis der politischen Netzwerke erscheint in ihren Ausprägungen noch undeutlich. Die Persistenz nationalstaatlicher Konzepte hingegen lässt sich deutlich herausarbeiten. Ob die in der Diskussion angeklungene Forderung nach einem erweiterten Begriff von Politik diese Unklarheiten beseitigen kann, ist hingegen fraglich. Aufweichungstendenzen werden die noch nicht abgeschlossenen Prozesse der Parteienkooperation kaum gänzlich erklären können. Vorerst sollten die unterschiedlichen Phänomene erfasst, verglichen und kategorisiert werden.

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