Um 20 Uhr versammeln sich täglich viele Menschen vor dem Fernseher, um die neuesten Nachrichten in der Tagesschau zu betrachten. Seit nunmehr 58 Jahren berichtet die Tagesschau bereits. Auch zu Zeiten der DDR wurde die älteste deutsche Nachrichtensendung auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze gesehen. Die Bürger der DDR informierten sich über die westdeutschen Medien und reisten – so formulierte es der Historiker Stefan Wolle – allabendlich kollektiv aus. Die realen Grenzanlagen der DDR zu überwinden, war hingegen ein lebensgefährliches und schwieriges Unterfangen. Der Weg in den Westen durch einen Antrag zur ständigen Ausreise aus der DDR* – wie der Ausreiseantrag offiziell hieß – war durchaus langwierig und zum Teil mit Schikanen verbunden.

Von Sebastian Gehrig und Martin Stallmann

Das von Helge Heidemeyer (Berlin) organisierte Panel „Grenzen überwinden – Die Systemgrenzen sprengende Kraft von Opposition und Widerstand in der DDR” diskutierte die Rolle von Grenzüberwindungen und grenzüberschreitenden Kontakten von Oppositionsgruppen für den Zerfall der DDR und die Transformation Osteuropas am Ende der 1980er Jahre. Die Sektion wurde von Gerhard A. Ritter geleitet, der in seinem Einführungsvortrag erste Problemkreise für die Vorträge und die Diskussionen skizzierte. Laut Ritter gehe es vor allem um die Überwindung von Grenzen im nationalstaatlichen Sinne. Dabei müssten Kontakte von DDR-Bürgern nach Osten und Westen und deren Bedeutung für Oppositionsbewegung in den Blick genommen werden.

* Antragsformular zur Ausreise aus der DDR
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These: Die DDR war systemisch nicht reformierbar.

Ritter stellte der Sektion zwei Thesen voran: erstens habe nie eine Chance auf Transformation in eine demokratische DDR bestanden, da die DDR zum einen systemisch nicht reformierbar gewesen sei. Zum anderen sei dies in der Tatsache begründet, dass die DDR keinen Nationalstaat dargestellt habe, daher auch „kein nationaler Weg zum Sozialismus” wie in Polen als politische Perspektive möglich gewesen sei. Zweitens stellte Ritter erinnerungspolitische Konkurrenzen fest, da die Diktaturüberwindung in Osteuropa durch den Mauerfall symbolisiert werde, was Entwicklungen in osteuropäischen Ländern in den Hintergrund dränge. Daher dürfe die Entwicklung in der DDR jedoch nicht als isolierte Revolution betrachtet werden, sondern müsse im Zusammenhang mit der Entwicklung in Ost- und Mitteleuropa untersucht werden. Zudem betonte auch er, dass die DDR stets Teil der westdeutschen Medienlandschaft gewesen sei.

Mitläufer-Forschung intensivieren

Den ersten Sektionsteil zum Thema „Die Überwindung der Systemgrenzen im Inneren der DDR” gestalteten Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin) und Tomas Vilimek (Prag). Kowalczuk wies zunächst darauf hin, dass Systemgrenzen in der Diktatur subjektiv erfahren werden und unterschiedliche Bedeutungen für das Individuum annehmen können. Daraus leitete er ab, dass eine typologische Beschreibung von Opposition nur begrenzt möglich sei, da sich oppositionelles Verhalten aus Individualbiographien erkläre. Die Beschäftigung mit Systemgrenzen helfe jedoch, ein allzu starres Bild der Diktatur zu überwinden.

Dies sollte für die Geschichtswissenschaft als Auftrag gelten, zu Perspektiven eines dynamischen Gesellschaftsbildes auf dem Weg zu einer Gesellschaftsgeschichte der DDR zu kommen. Zudem müsse die Mitläufer-Forschung verstärkt in den Blick genommen werden. Vilimek betonte in seinem Vortrag, dass die Grenze zwischen noch konformem und schon sanktioniertem Verhalten in der Diktatur für die historischen Akteure fließend gewesen sei. Darüber hinaus hätten sich diese staatlich sanktionierten Grenzen über die Zeit verändert und sich damit die Definitionen oppositionellen und widerständigen Verhaltens mitverschoben.

Kontake zwischen oppositionellen Gruppen in Osteuropa

Im zweiten Thementeil der Sektion diskutierte Krzysztof Ruchniewicz (Wroclaw) grenzüberschreitende Kontakte zwischen nationalen oppositionellen Gruppen in Osteuropa. Die Vernetzung von polnischen und DDR-Oppositionsgruppen sei dabei seit den 1970er Jahren sehr gering gewesen, was Ruchniewicz auch im „Neid auf den Mut der Polen” in der DDR begründet sah, da Polen schon früh eine wirkungsmächtige Oppositionsbewegung entfaltet hätte. Die polnische Arbeiterschaft sei in der Artikulierung von gesellschaftlichem Widerstand sehr viel aktiver als die ostdeutsche gewesen. Ruchniewicz charakterisiert die Jugendopposition in Polen daran anschließend als dezidiert politisch motiviert, wobei die DDR-Jugendkultur westlich beeinflusst gewesen sei, was sich in der dominanten Konzentration auf Friedens- und Ökologiefragen geäußert habe. Abschließend argumentierte Ruchniewicz, dass die Opposition in der DDR in Polen bis ins Jahr 1989 weitgehend nicht wahrgenommen wurde, dann allerdings stark beachtet worden sei.

Daran anschließend beschrieb Olschowsky die ostdeutsch-polnischen Austauschprozesse anhand der Betrachtung von Reisebewegungen seit der Öffnung der Grenze zwischen der DDR und Polen im Jahre 1972. Der gesteigerte Kontakt zwischen Ostdeutschen und Polen habe bestehende nationale Stereotype und Vorurteile jedoch nur bedingt abgebaut. Die Kontakte beschränkten sich überwiegend auf Kurzreisen, Migration habe in den Ost-Ost-Beziehungen kaum eine Rolle gespielt. Aufgrund der Tatsache, dass nationale Ressentiments bestehen blieben, argumentierte Olschowsky, kam es zu einer gewissen Oppositionskonkurrenz und Irritationen zwischen den Oppositionsbewegungen bis ins Jahr 1989.

Der Kontakt in den Westen

Nach der Beschreibung von oppositionellen Kontakten über Grenzen Osteuropas hinweg, wandten sich Bernd Florath (Berlin) und Helge Heidemeyer (Berlin) Kontakten von Oppositionellen über die Grenze des Kalten Krieges hinweg nach Westeuropa zu. Florath beschäftigte sich mit dem westdeutschen Sozialistischen Osteuropakomitee (SOK). Der Vortrag rief das generelle Problem westdeutscher linker Gruppen in Erinnerung, wie diese sich zu Oppositionellen in Osteuropa positionieren sollten. Sollte man nur Individuen und Gruppen unterstützen, die den gleichen ideologischen Positionen anhingen oder alle Dissidenten gleichermaßen? Dabei seien es vor allem trotzkistische Gruppen gewesen, die Interesse an oppositionellen Gruppen gezeigt hätten, während andere linke Gruppen und die großen Parteien in der Bundesrepublik mehr auf die osteuropäischen Regierungen fixiert blieben.

Welche Effekte hatte die Ausreise von DDR-Bürgern? Profitierte die Opposition? Schwächte sich die DDR durch die Kriminalisierung der Grenzüberschreitung selbst?

Helge Heidemeyer beschäftigte sich mit Effekten der Ausreise von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik. Er verfolgte die Frage, ob die Kriminalisierung der Grenzüberschreitung von der DDR in die Bundesrepublik die ostdeutschen Staatsorgane geschwächt habe, da auch die weitere Beobachtung ausgereister Bürger die Kräfte der Staatssicherheit gebunden hätten. Im Umkehrschluss fragte Heidemeyer auch, ob die Ausreise die Opposition innerhalb der DDR gestärkt oder geschwächt habe. Da die grenzübergreifende Opposition vor allem von Auswanderern auf Seiten der Bundesrepublik getragen worden sei, deutete Heidemeyer einen durchaus stärkenden Effekt der Opposition durch die Ausgereisten an.

Die Abschlussdiskussion versuchte nochmals Perspektiven zu bündeln, welche die zeithistorische Forschung in Zukunft weiterverfolgen könne. Dabei standen vor allem die Frage der gesellschaftlichen Verankerung von Opposition in den Gesellschaften Osteuropas und die Weiterverfolgung transnationaler Vergleiche und Kontakte im Vordergrund. Kurzfristig kontrovers wurde die Debatte, als der Vorschlag gemacht wurde, die Ausreise von DDR-Bürgern als Migrationsprozess zu begreifen, der mit anderen Migrationsgruppen, die in die Bundesrepublik im gleichen Zeitraum einwanderten, verglichen werden könne. Dieser Vorschlag wurde von den Vortragenden mehrheitlich negativ beurteilt, da man die militarisierte deutsch-deutsche Grenze und die besonderen Gefahren ihrer Überschreitung im Blick behalten müsse.

(Redaktion: KP/MS)