Im Rahmen der Abendveranstaltung des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands am Donnerstagabend im Schlüterhof des Deutschen Historischen Museums hielt Lorraine Daston, Direktorin des Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte Berlin, den Festvortrag. Darin wies sie zunächst auf die besondere Bedeutung der historischen Grenzziehungen für die Stadt Berlin hin.

i-3edb4df156c673a3370536a7d79b854a-Lorraine_Daston.jpgVon Angela Siebold

Jedoch seien trotz dem Ende der deutschen Teilung neue Grenzen entstanden, die sich auf anderen Ebenen bewegten, wie etwa im ökonomischen, kulturellen oder sogar im kulinarischen Bereich.

Grenzauflösungen, so Daston, bedeuteten immer auch das Ziehen neuer Grenzen, die nötig seien, um die Welt zu definieren, zu kategorisieren und ihr einen Sinn zu verleihen. Die Aufgabe der Historiker sei es dabei, herauszufinden, warum und wie Grenzen entstehen und verschwinden – seien es politische Grenzen oder subtilere Grenzen wie die zwischen Geschlechtern oder zwischen dem privaten und dem öffentlichen Bereich. Auch bei der universitären Disziplinarität handele es sich um Grenzziehungen, die jedoch nicht nur Abgrenzung, sondern auch die Definition bestimmter Kompetenzen und Fähigkeiten bedeuteten.
* Foto rechts: Lorraine Daston mit Prof. Dr. Werner Plumpe (VHD)


Disziplingrenzen verwischen

Anschließend zeigte Daston anhand verschiedener Beispiele die vielfältige Bedeutung von Grenzziehungen auf. Erstens thematisierte sie die fließenden Grenzen zwischen der Wissenschaftsgeschichte und der Wissensgeschichte: Lange seien die Grenzziehungen innerhalb der Wissenschaft weitaus bedeutender gewesen als heute; der Gedanke, die Wissenschaft von äußeren Einflüssen „rein” zu halten, habe die Wissenschaft dominiert. Betrachte man jedoch die Praktiken der Wissenschaft, so verwischten die Grenzen zwischen Wissenschaft und Wissen in anderen Bereichen: Das wissenschaftliche Labor, die handwerkliche Werkstatt, der Markt oder der Haushalt wiesen durchaus ähnliche Praktiken auf.

Zweitens seien, so Daston, die Details und das Ausmaß der Unterschiede amerikanischer und deutscher Hochschulen wesentlich umfassender als man erwarten könnte. So sei beispielsweise der Frauenanteil unter den Professoren in den USA schon lange wesentlich höher als in Deutschland. Ein Grund dafür sei, dass die Idee einer strikten Komplementarität in Deutschland lange das Geschlechterverhältnis bestimmt habe, während das amerikanische Modell dagegen stärker auf Konkurrenz fokussiere. Weitere Unterschiede seien zum Beispiel Aspekte der universitären Organisationsstruktur, die auch Auswirkungen auf die Handlungs- und Arbeitsweisen der Wissenschaftler hätten.

Lorraine Daston: Die deutsche Art und Weise der Reflexion über Geschichte ist eine Form der Zukunftsplanung.”

Ein weiterer signifikanter Unterschied sei die Bedeutung, welche der Geschichte in Deutschland und den USA zukäme. Denn während das Prestige und das kulturelle Gewicht der Geschichte in Deutschland sehr ausgeprägt sei, würde in den USA mit der Formel „That’s History!” die Irrelevanz des Verhältnisses von Gegenwart und Vergangenheit zum Ausdruck gebracht. Wem das überdeterminierte deutsche Geschichtsbewusstsein nicht vor Augen sei, solle, so Daston, nach Texas fahren, um zu erfahren, was Geschichtsverdrossenheit bedeute. Mittlerweile sei ihr klar geworden, dass die Reflexion über die Vergangenheit in Deutschland durchaus auch als Art verstanden werden könne, die Zukunft zu planen.

Im Kontext der Diskussionen um Elitenuniversitäten in den USA und Deutschland stellte Daston die Grenzen zwischen den Evaluierungskategorien „gut”, „besser” und „am besten” dar. Die Kontroverse um die Elitenuniversitäten würde in der Presse oft als Konflikt um politische Werte dargestellt. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Solidarität in Deutschland und Wettbewerb in den USA sei jedoch übertrieben. Denn auch die deutschen Universitäten befürworteten die Schaffung von meritokratischen Strukturen. Schließlich ginge es im Universitätssystem immer auch um die Schaffung von Hierarchien.

Ohne Grenzen geht es nicht

Gleichzeitig sei die bisher ungekannte „Evaluierungswut” deutlich sichtbar, etwa im Leistungsdruck aufgrund mangelnder öffentlicher Gelder oder im Gutachtenwesen. Auf wertende Grenzziehungen könne die Universität nicht verzichten, da das Konkurrenzdenken im wissenschaftlichen System für Forschung und Lehre unverzichtbar sei. Dabei unterliege das Universitätssystem jedoch weniger transparenten Regeln als andere Institutionen, die über öffentliche Gelder verfügten. Denn Aspekte wie die Wertschätzung von Vertrauen und der Einsatz der Urteilskraft seien in der Wissenschaft wesentlich für die Qualitätssicherung. Daston betonte damit die Wissenschaft als ein eigenes Feld mit seiner eigenen Geschichte, seiner eigenen Logik und eigenen Standards.

(Redaktion: KP/MS)