Ein spannender Vortrag zu den Grenzen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg fand am Freitag, den 01.10.10, unter der Moderation von Dr. Felix Ackermann (Frankfurt/O.) im bis auf den letzten Platz besetzten HS 1205 statt. Die Sektion am Freitagmorgen stellte für mich den Höhepunkt der auf dem Deutschen Historikertag besuchten Veranstaltungen dar: sie zeigte auf eindrucksvolle Weise, was Geschichte mit unserer Gegenwart zu tun hat bzw., dass das Nachdenken über unsere Vergangenheit auch unsere Zukunft mitgestaltet. Gleichzeitig zeigten die jungen Historiker eindrucksvoll, wie Europa weiter zusammenwächst. Aber greifen wir dem Ergebnis nicht vor.
Von Bernhard Schell
Die Sektion wurde von Dr. Felix Ackermann moderiert. Er machte deutlich, dass der Prozess der Erinnerung eine kulturwissenschaftliche Neuausrichtung in Gang bringt. Mit dem Ableben der Erlebnisgeneration besteht zudem die Notwendigkeit, das Erfahrene in den zukünftigen Generationen zu verankern. Dabei muss aber vermerkt werden, dass der Integrationsprozess in der Europäischen Union keine homogene Erinnerungskultur kreiert, sondern sich diese Erinnerungskultur auf nationaler Ebene ereignet.
* Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas, inzwischen Teil der bundesdeutschen Erinnerungskultur.
Europa der Gedächtnisse
Frau Professor Waltraud Schreiber (Eichstätt) machte in ihrem theoretischen Teil deutlich, dass ein Europa der Gedächtnisse existiert, d.h. es müssen deshalb auch die unterschiedlichen Narrationen in den Blick genommen werden und ihr nationaler Stellenwert geklärt sein. Vergangenheit gilt es zu rekonstruieren und auf die Gegenwart und Zukunft eines Landes zu beziehen. An vier Projektbeispielen sollte dies nun verdeutlicht werden.
Formen und Inhalte nationaler Erinnerungskulturen unterscheiden sich naturgemäß deutlich voneinander.
In einem ersten Durchgang berichtete Bernd Robionek (Berlin) über Räumliche Erinnerungskultur in Dalmatien in der Region Split zwischen Partisanenkult und Nationalstaatlichkeit. Die Jahre 1945 und 1991 stellten tiefe Zäsuren in der kroatischen Geschichte dar. Kroatien war im Zweiten Weltkrieg tief gespalten. Deshalb brauchte es die Erinnerung an den antifaschistischen Widerstand, den Partisanenkult, um das Land nach 1945 wieder zu einen. Denkmäler nationaler „Helden” und Opfer der gegnerischen Gewalt waren Ausdruck dieser neuen Narration.
Auffällig ist, dass diese mit dem sich abzeichnenden Ende der Tito-Ära nochmals zunahmen. Mit der kroatischen Selbstständigkeit Anfang der 90er Jahre rücken diese Gedenkstätten zunehmend in den Hintergrund und werden durch die Gründungsväter des neuen Kroatiens, vor allem Franjo Tudjman, ersetzt. Eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entfällt allerdings. Die kroatisch-faschistische Ustascha verkümmert deshalb zu einem Produkt serbischer Propaganda.
Frage eines jungen Kroaten: „Warum lassen die Deutschen ihre sozialistischen Denkmäler verrotten?”
Ein daher nicht überraschendes Ergebnis zum Schluss: Das Forschungsprojekt stieß auf nur wenig Verständnis unter den Kroaten aller Altersschichten. Ein junger Kroate: „Warum lassen die Deutschen ihre sozialistischen Denkmäler verrotten?”.
Einen zweiten Projektbericht stellte Frau Stephanie Herold über Erinnerungskonstruktionen im Raum Skopje (Makedonien) vor. Die Hauptstadt Skopje ist ethnisch zweigeteilt. 24 % Albaner stehen 76 % Makedonen gegenüber. Erst in neuerer Zeit greift man wieder auf den Gedanken der Denkmäler zurück und plant Statuen von Alexander dem Großen und neue orthodoxe Kirchen. Beides provoziert aber zurzeit den Widerstand der Bevölkerung.
Frau Professor Dr. Rasa Balockaite (Kaunas) referierte in ihrem auf Englisch gehaltenen Vortrag über die Ergebnisse eines litauisch-weißrussischen Teams über städtische Erinnerungslandschaften in Vilnius, Minsk und Kiew. Grundlage war das Studium alter Landkarten aus unterschiedlichen Epochen. Auffallend war, dass neben den üblichen Kategorien wie vorsowjetisch, sowjetisch und nachsowjetisch Vilnius ca. 25% Blumen- oder Tiernamen für seine Straßen gewählt hat. Selbst während der Zeit der sowjetischen Besetzung nach 1945 gab es nur wenige Straßennamen von kommunistischen Helden, die alle stillschweigend noch am Ende der Sowjetära umbenannt wurden.
Minsk ist auch noch heute von sowjetischen Namen und sowjetischer Kultur geprägt. Sie bilden einen wichtigen Bestandteil der nationalen Identität. In der Ukraine ist dies ähnlich, allerdings gibt es auch Rückgriffe auf die eigene Geschichte, so z.B. auf den ukrainischen Freiheitshelden Stefan Bandera in der Westukraine.
Die Festung Brest
Den Höhepunkt, sowohl inhaltlich als auch emotional, stellte der Vortrag von Christian Ganzer und Frau Dr. Alena Pashkovich über die Festung Brest und ihre museale Repräsentation als Mythos dar. Die heldenhafte Verteidigung der Brester Festung ist ein wichtiges Moment des Mythos des „Großen Vaterländischen Krieges” Stalins. Er wurde vor allem in den 50er und 60er Jahren entwickelt. Dieser Mythos soll von den Katastrophen gerade in der Anfangszeit des deutsch-sowjetischen Krieges ablenken. Dieser „heroische Kampf bis zur letzten Patrone” wird perfekt inszeniert und auf 32 Tage bis zur Kapitulation des Major Gavrilov zelebriert. Die Verteidigung des Brester Forts wird somit zum ersten Schritt des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg. (* Teil der Erinnerungskultur waren u.a. auch Briefmarken, vgl. rechtes Bild.)
Die Schwächen springen ins Auge: Von den 9000 Rotarmisten des Forts gehen 6000 in Gefangenschaft. Die Überlebenden werden zu Verrätern stigmatisiert, verschwinden im Meer des heroischen Heldentums, werden totgeschwiegen. Auch in Belarus, das bereitwillig diese Narrative weiterpflegt, bekommen sie keine Stimme. Im Gegenteil, der „Kult” ist allgegenwärtig für die weißrussische Bevölkerung und dient wie selbstverständlich zur Herrschaftslegitimation der herrschenden Klasse.
Erst mit der Öffnung weiterer Archive entsteht ein differenzierteres Bild: Die Belagerung kann gar nicht so lange gedauert haben, da die deutschen Truppen schon am 05. Juli 1941 weitermarschieren. Die verbleibenden Deutschen beginnen den Massenmord an Juden und missliebigen Russen. Auch der Missbrauch des Begriffs des Helden/Märtyrers wird heute in der weißrussischen Gesellschaft klarer gesehen. Allerdings ist dies ein schmerzhafter Prozess, gibt es doch in fast jeder Familie Opfer des Zweiten Weltkriegs zu beklagen. Existentiell spürbar war dies bei den beiden Referenten, vor allem bei Frau Pashkovich.
Frau Prof. Dr. Monika Flacke (Berlin, Oldenburg) kommentierte die beiden letzten Vorträge. Die in den Vorträgen rekonstruierten Narrative bilden die Grundsäulen einer Nation. Will man sie dekonstruieren, dann bedarf es Alternativen, eines Paradigmenwechsels. Weißrussland tut sich hier schwer, kann es doch nicht auf die Vorkriegszeit zurückgreifen.
Erinnerungskulturen bilden die Grundsäulen einer Nation.
Dank sei der Stiftung „Erinnerung – Verarbeitung – Zukunft” und dem Institut für angewandte Geschichte, die diese Projekte finanziell ermöglichen und damit einen wichtigen Beitrag zur Friedensarbeit leisten. Weitere Informationen zu vergleichbaren Projekten kann man unter www.geschichtswerkstatt-europa.org nachlesen.
- Link zur Sektionsseite: Grenzen der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg
Bernhard Schell ist Oberstudienrat für die Fächer Geschichte und Religion am Hohenstaufen-Gymnasium Eberbach. |
(Redaktion: KP/MS)
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