Eine der letzten Sektionen des 48. Historikertages in Berlin beschäftigte sich am Freitagnachmittag mit dem “dunklen” Europa – antiliberalen Konzeptionen zur Formierung einer europäischen Gemeinschaft.
Von Maria Neumann & Erik Swiatloch
Schon der Beginn des Panels versinnbildlichte solche Schattenseiten – in diesem Fall geschichtswissenschaftliche Schattenseiten, nämlich das mangelnde Verständnis von Technik. Die Mikrophone fielen nach wenigen Minuten aus, das an die Wand projizierte Bild war viel zu klein und die Filmmusik dröhnte aus dafür nicht vorgesehenen Laptoplautsprechern. Namensschilder für die RednerInnen des Podiums fehlten auch hier, wobei diese ohnehin bei keiner Veranstaltung vorzufinden waren, sofern die ReferentInnen nicht selbst handschriftlich ebensolche angefertigt hatten. Doch diese anfänglichen Verzögerungen und technischen Missstände sollen die gelungenen Vorträge der ReferentInnen nicht in den Schatten stellen.
Jeder Prozess, sei es die Konstitution einer Staatengemeinschaft oder die regelmäßige Austragung eines wissenschaftlichen Kongresses, erleidet eben auch Rückschläge und auf dem Historikertag in Berlin waren neben diesen gewiss zahlreiche Fortschritte und innovative Ansätze und Momente zu beobachten und zu erleben.
Die moderne europäische Idee
Der Fluchtpunkt heutiger Europahistoriographie ist unsere eigene Gegenwart. Dabei knüpft die reale/realisierte Europakonzeption, welche auf der Verteidigung der Freiheitsrechte und der Verpflichtung zum Frieden aufbaut, an Ideen der Zwischenkriegszeit (Stresemann/Briand) und Pläne des nationalsozialistischen Widerstands an. Den Kern dieser Überlegungen bilden liberale Ideale und die Akzeptanz der Moderne. Sie setzen neben einem gemeinsamen Bewusstsein der europäischen Völker füreinander auch einen gemeinsamen Kanon von Werten (Würde, Freiheit, etc.), die immer wieder christliche Bezüge aufweisen, voraus.
Antiliberale Entwürfe hingegen fanden in der Geschichtsschreibung bislang wenig Beachtung. Obwohl alle Vertreter dieser Sektion deutlich auf die Notwendigkeit verwiesen haben, auch diese Europaideen in die historische Analyse mit einzubeziehen.
Es kann nicht zielführend sein, europäische Erfahrungen und Konzepte zu ignorieren, die keine liberalen Traditionslinien verfolgen und zeitweise die Europakonzeption der Gegenwart gefährdeten. Daher müssen jene Entwicklungsstränge, die beispielsweise im vormodernen und christlich-konservativen Milieu verhaftet sind, historisch ebenfalls erklärt werden.
Haben antiliberale Europakonzeptionen die positiv konnotierte Europäisierung gefestigt?
Dieter Gosewinkel, wissenschaftlicher Referent am wissenschaftlichen Zentrum Berlin, führt diese Sachlage zu der These zusammen, dass die antiliberalen Europakonzeptionen den Prozess der heute positiv konnotierten Europäisierung stärkten und noch immer fortwirken. Die daraus resultierende Doppelmöglichkeit und mit ihr einhergehende Spannung ist also weiterhin präsent.
Diese Annahme untersuchten die ReferentInnen im Folgenden anhand einiger Beispiele.
Robert Gerwarth und Stephan Malinowski von der Universität Dublin besprachen europäische Integrationsmomente, die auf gemeinsamen Gewalt- und Kriegserfahrungen basieren. Dabei bezogen sie sich zum einen auf den Kolonialismus als eine kollektive Erfahrung mit Gewaltcharakter, zum anderen auf die Ereignisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg.
Europa als Zusammenschluss gegen gemeinsame Feindbilder
Charakteristisch für das Verhalten der Kolonialherrscher war die Betonung der europäischen Gemeinsamkeiten mit Rückgriff auf nationale Nuancen. Auf allen Kontinenten bildeten sich Kollektive mit anderen Europäern, nicht aber mit den Eingeborenen. Der Rassismus, der sich gegen die nativs richtete, vereinte gleichzeitig die Europäer und schwächte zudem die europäischen Binnengrenzen. Die wirtschaftlichen Erkenntnisse der Kolonialzeit wurden im Zuge der Entkolonialisierung zur humanitären Entwicklungshilfe weiterentwickelt. Außerdem wurde über Jahrhunderte Gewalt gegen Einheimische anders exekutiert als gegen die Europäer. Diese Beispiele belegen eine dunkle Variante europäischer Kooperation. Der Zusammenschluss gegen gemeinsame Feindbilder ermöglichte es Europa, wenn auch vorerst nur in der Ferne, gemeinsam zu leben.
Auch die beiden Weltkriege boten den Nährboden für transnationale Zusammenarbeiten in Europa. Die gemeinsam erlebte extreme Gewalterfahrung ist dabei auch als ein einendes Element zu verstehen. So setzte sich die Waffen-SS 1945 zur Hälfte aus Ausländern zusammen. Gerwarth nannte sie eine „europäischen Truppe”.
Extreme Gewalterfahrungen wirken als einendes Band.
Einem konkreten antiliberalen Europakonzept widmete sich im Anschluss Vanessa Conze, Assistentin an der Universität Gießen. Sie diskutierte katholische Europaideen am Beispiel der Zeitschrift „Abendland”, die von 1925 bis 1933 erschien. Das Abendland stellt dabei einen katholischen Schlüsselbegriff für den Neuaufbau Europas dar und birgt nicht nur politische Zielsetzungen, sondern eine ganze Gesellschaftsordnung. Die inhaltlichen Schwerpunkte des in sich sehr heterogenen Verleger- und Autorenkreises lassen sich wie folgt zusammenfassen: Idealisierung des Mittelalters als goldenes Zeitalter, die Beschreibung der Geschichte der Neuzeit als Prozess des Niedergangs, Abkehr vom Sozialismus, Liberalismus und der Moderne, Aufruf zur Re-Christianisierung des Kontinents, Verständigung mit anderen politischen Parteien, Stilisierung des Rheinlandes (Herrschaftsgebiet Karls des Großen) zum Kerngebiet des Abendlandes, Hervorhebung der Bedeutung Mitteleuropas und die Anerkennung der Nationen als identitätsstiftende Elemente. Diese Inhalte bestimmten katholische Konzeptionen bis in die zweite Hälfte der 1950er Jahre, bis zu dem Zeitpunkt, als die politischen Einigungsprozesse in Europa wirklich Realität wurden.
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