Wenn sich der 48. Deutsche Historikertag unter dem Motto „Grenzen” präsentiert und zudem in eben jener Stadt abgehalten wird, die wie keine andere geprägt ist vom Schicksal ihrer jahrzehntelangen Trennung, dann darf ein Thema natürlich nicht fehlen: die Berliner Mauer.
Von Christine Buch
Ihr und ihren – räumlichen wie geistigen – Dimensionen widmete sich eine ganze Sektion des Historikertages, die passenderweise im Tagungsraum der Gedenkstätte Berliner Mauer abgehalten wurde. Die Erinnerungsstätte, die zurzeit eine erhebliche Erweiterung erfährt, verzeichnet kontinuierlich steigende Besucherzahlen. „2001 zählten wir 67.000 Besucher, im Mauerjahr 2009 waren es 371.000!”, freute sich Dr. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Gedenkstätte Berliner Mauer.
Nachdem der Soziologe und Zeithistoriker Dr. Manfred Wilke chronologisch die konkreten Ereignisse, die zum Mauerbau führten und deren Bauphasen betrafen, wiedergegeben hatte, widmete sich Prof. Dr. Thomas Lindenberger (Leiter des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit Wien) in seinem Vortrag „Die Wechselwirkung von Grenzregime und Gesellschaftskonstruktion im SED-Staat” den politisch-ideologischen Hintergründen.
Scheitern oder Etappensieg?
„Die Berliner Mauer war die verräumlichte Grenze des Bolschewismus”, so Lindenberger. Doch die Bewertung des Baus auf geistiger Ebene sei durchaus ambivalent zu betrachten. Auf westlicher Seite sei der Mauerbau als letzte Lösung zum Machterhalt – und somit als Eingeständnis des Scheiterns der DDR aufgefasst worden. Dies stünde im krassen Missverhältnis zur Bewertung aus Sicht des sozialistischen Nachbarstaates, der die Errichtung der Mauer als Etappensieg feierte. Allein dieses Beispiel lasse bereits auf die Komplexität des Themas schließen.
Unsichtbare Grenzen in der DDR-Diktatur
So gehörte die „unsichtbare Grenze” zum DDR-Alltagswissen der Bürger und beeinträchtigte diese in gewissem Maße mehr, als die Mauer selbst es tat. Natürlich konnte man Vögel im Wald beobachten. Aber die Verseuchung des observierten Lebensraumes durch die ansässige Industrie melden? Jedem Bürger der DDR-Diktatur sei klar gewesen, dass man so etwas nicht tat. Kritik am Regime zu üben kam einem Überschreiten jener unsichtbaren Grenze gleich.
Neue Forschungen decken laut Lindenberger nun immer mehr auf, dass das System gerade auf unterster Ebene immense Unterstützung erhielt: dies zeige sich besonders deutlich in den zahlreichen ehrenamtlichen Tätigkeiten, die fast jeder DDR-Bürger übernahm. Zwar müsse man diese Feststellung differenziert betrachten: die ehrenamtlichen Tätigkeiten ließen nicht zwangsläufig auf ein bedingungsloses Einverständnis der betreffenden Person mit dem politischen System schließen. „Viele wollten in den gegebenen Strukturen einfach das Beste für sich herausholen”, so Lindenberger. Dennoch stützte sich der SED-Staat, der eine „Diktatur der Grenzen” gewesen sei, insbesondere auf jene Art der Beihilfe aus der Bevölkerung.
Leben im Sozialismus
Der Rolle der Bürger im Wirken des sozialistischen Staates widmete sich auch Dr. Gerhard Sälter von der Gedenkstätte Berliner Mauer in seinem Vortrag über die „Fluchtverhinderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe”.
„Fluchtbekämpfung war im SED-Staat immer Thema. Jedoch wurde die Verhinderung von Flucht paradoxerweise nach dem Mauerbau zunehmend wichtiger”, so der Historiker. Um keine unnötigen negativen Schlagzeilen zu provozieren habe das Interesse der DDR-Regierung seit dem Bau der Berliner Mauer nicht mehr dem Abbrechen der Fluchtversuche gegolten, sondern deren Ersticken im Keim. „Die Wandlung im Sicherheitsgesetz vollzog sich unter der daraus resultierenden simplen Überlegung: Alle müssen bewacht werden”, sagte Sälter. Eine Einbeziehung der Verwaltung und sogar der Bevölkerung erschien unerlässlich. Ziel sei es gewesen, die Flüchtlinge bereits lange vor der Grenze abzufangen, die Maßnahmen zur Verhinderung der Fluchtbewegungen hätten dadurch eine Ausdehnung auf die gesamte DDR erfahren. Um Unterstützung aus der Bevölkerung zu beanspruchen sei ein regelrechtes Feindbild aufgebaut worden: „Der Republikflüchtling ist asozial, ein Verräter und Verbrecher”, sei den DDR-Bürgern permanent eingebläut worden.
Eine besonders absurde Entwicklung in der Sicherheitspolitik der DDR stellten die Grenzhelferdörfer an der innerdeutschen Grenze dar: „Die Bewohner der Dörfer gestalteten ganze Landschaften um. Sie banden ihre Leitern an, damit diese niemandem als Fluchtwerkzeug dienen konnten. In keinem der Grenzhelferdörfer waren die Hecken oder Blumenbeete höher als vielleicht 30 cm”, betonte Sälter. Die Bemühungen des DDR-Regimes, immer mehr Menschen in die Fluchtverhinderung mit einzubeziehen, zeigten laut dem Historiker ihre Wirkung: „Rund 80 Prozent der ‚Republikflüchtigen’ konnten bereits vor Erreichen der eigentlichen Grenze verhaftet werden.”
Mauer als Fiktion
Prof. Dr. Leo Schmidt (Universität Cottbus) unterstrich in seinem Beitrag „Die Berliner Mauer als globale Ikone: vom Bauwerk zum lieu de mémoire” abschließend ebenfalls die Vielschichtigkeit der sowohl aus Stein gebauten als auch imaginären, aus Fiktion entstandenen Mauer. Für die DDR-Bürger habe das Brandenburger Tor die Visualisierung der Mauer dargestellt. Es sei als ein bewusster Ersatz gewählt und propagiert worden. Den real existierenden Wall abzufotografieren und zu zeigen war verboten. „Daher haben wir auch heute nur Computerrekonstruktionen davon, wie die Maueranlage von Osten eigentlich aussah”, so Schmidt. Im Westen hingegen habe man die Mauer als Spiegel der eigenen Gesellschaft benutzt und bemalte sie – meist bunt und grell. Nur selten sah man hier Kritik an der DDR visualisiert.
Das „Bauwerk Mauer” lasse sich laut Schmidt in vier Entwicklungsphasen unterteilen. 1961 sei die „erste” Mauer, nur 8 bis 10 Kilometer lang, zunächst für die Medien erbaut worden. „Und das sehr schnell und schlampig”, so der Kunsthistoriker. „Sie stellte eine temporäre Drohgebärde dar.”
Eine funktionale Plattenwand wurde dann in der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre errichtet. „1970/71 dann, als die DDR um internationale Anerkennung rang, wurde die Mauer regelrecht peinlich. Man wollte keine hässliche Grenze mehr und versuchte diese zu verharmlosen”, sagte Schmidt. „Die glatte und bunt bemalte Mauer, so wie wir sie in Erinnerung haben, stammt erst aus dem Jahr 1975.”
Christine Buch studiert Europäische Kunstgeschichte, sowie Mittlere und Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Medizingeschichte an der Universität Heidelberg. |
(Redaktion: CJ)
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