Auf eine Forschungsfrage von Birke antwortet Marc Scheloske:
Eine sehr kurze, aber sicher nicht zufriedenstellende Antwort könnte lauten: Es kommt darauf an.
Zunächst fällt aber auf, dass bereits in der Frage implizit die Bedeutung von Sprache für die Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung vorausgesetzt wird. Diese Sichtweise befindet sich damit in bester (sprach-)philosophischer Tradition. Es ist ganz egal, ob wir hier George Herbert Mead herausgreifen, für den Sprache ein wesentlicher Aspekt der Identitätskonstitution war. Oder uns an Ludwig Wittgenstein erinnern, für den Sprache nicht weniger als der Ausdruck einer Lebensform war und der unmißverständlich zum Ausdruck brachte: „Die Grenzen unserer Sprache sind die Grenzen unserer Welt”
Sprache und Sprechen sind also – das lässt sich feststellen – ein wesentlicher Faktor bei der Herausbildung von Identität. Wie wir uns als eigenständige Persönlichkeit und handelnde Subjekte erleben, hängt von der sprachlichen Auseinandersetzung mit unserer Umwelt ab; entscheidend dabei ist der sprachliche Dialog, durch den wir den ständigen Wechsel zwischen Eigen- und Fremdperspektive einüben und stabilisieren.
Doch nun zurück zur eigentlichen Frage: Führt Mehrsprachigkeit dazu, dass sich die Sprecher möglicherweise über unterschiedliche Aspekte ihrer Persönlichkeit bewusst werden? Dazu muss man feststellen, dass das Verhältnis von Mehrsprachigkeit und Persönlichkeit erst seit den 1960er Jahren erforscht wird und nur sehr wenige Studien sich überhaupt explizit mit dieser Frage beschäftigen.
Zudem muss man eine gewichtige Einschränkung machen: auch bei den allermeisten Sprechern, die mehrsprachig aufwachsen, ist die Sprachkompetenz nicht gleich verteilt. Fast immer wird eine Sprache etwas besser beherrscht oder es besteht eine (emotionale und/oder biographische) Bindung zu einer der Sprachen. Eine echte “symmetrische Zweisprachigkeit” (Fachleute sprechen von Ambilinguismus) ist ausgesprochen selten.
Die Studien zeigen jedenfalls, dass Sprache eben nicht als isoliertes Phänomen begriffen werden darf. Denn Sprache meint (gerade wenn wir über ihre Rolle für das individuelle Selbsterleben sprechen) immer die Beherrschung und Benutzung der jeweiligen Sprache, Sprache ist immer in vielfältige Kontexte eingebunden und markiert natürlich auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.
Und all diese Faktoren, die persönliche Bindung an eine Sprache und die (Sprach-)Biographie bestimmen letztlich, ob sich Sprecher in Abhängigkeit von der Sprache, die sie gerade benutzen, unterschiedlich erleben. Eine verallgemeinernde Antwort ist also nicht möglich.
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Literatur:
Oppenrieder, Wilhelm/Thurmair, Maria: Sprachidentität im Kontext von Mehrsprachigkeit. In: Janich, Nina/Thim-Mabrey, Christiane (Hgg.): Sprachidentität – Identität durch Sprache. Tübingen: Gunter Narr 2003. S. 39-60.
Wandruszka, M., 1979. Die Mehrsprachigkeit des Menschen, München: Piper
» Marc Scheloske ist Wissenschaftssoziologe und Redakteur von ScienceBlogs |
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