Physik und Biologie haben viel mehr miteinander zu schaffen, als sich der normal sterbliche Nichtwissenschaftler gemeinhin vorstellt. Als Hausjournalistin am Dresdner Max-Planck-Institut für Molekulare Zellbiologie und Genetik habe ich im Juni schon mehrfach Wissenschaftler getroffen, die eigentlich aus dem einen Gebiet kommen, aber auf dem anderen forschen.
Das Duo “Gabby & Abi”, das ich dort getroffen habe, steht symbolisch für diese Symbiose: Der holländische Molekularbiologe Gabriel Krens arbeitet in der Gruppe von Carl-Philipp Heisenberg, die experimentell herausfinden will, was genau in Zebrafisch-Embryos geschieht, wenn die Zellen verschiedene Arten von Geweben zu bilden beginnen. Die australische Physikerin Abigail Klopper hingegen gehört zum “Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme“, wo die Wissenschaftler den ganzen Tag entweder auf Computerbildschirme starren oder miteinander diskutieren und dabei Unmengen von Papier mit wuchernden Formeln beschreiben. Die einzigen Geräte, die sie für ihre Forschung brauchen, sind Kaffeevollautomaten.
Gabby & Abi haben sich bei einer gemeinsamen Klausurtagung beider Institute getroffen. Seither sind sie ein Paar – nicht im richtigen, aber im wissenschaftlichen Leben: Gabriel markiert die Zellkerne der Zebrafischembryos. Dann verfolgt er unter dem Mikroskop, wie diese sich vermehren, ins Innere des kugelförmigen Embryos wandern und sich in drei Zellschichten anordnen. Abigail betrachtet den Vorgang mit physikalischem Blick: Gewebe verhalten sich wie Flüssigkeiten. Die Zellen sind gleichsam Flüssigkeitsteilchen, und wie sie sich darin bewegen, hängt von ihrer Verformbarkeit und ihren Oberflächeneigenschaften ab. Abigail verpackt das alles in Formeln und Gleichungen und entwickelt daraus ein mathematisches Modell der Zellsortierung. Wozu? Um die experimentellen Beobachtungen allgemeingültig zu bestätigen.
Ich habe den interdisziplinären Spagat nachvollzogen und meinen Arbeitsplatz als Hausjournalistin an das Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme in Dresden-Plauen verlegt. Und bin erst einmal perplex, weil ich fast gar nichts mehr verstehe.
Hier sind gerade Physiker aus allen Gegenden der Welt zu einer Sommer-Werkstatt unter dem Titel “Quo vadis Bose-Einstein condensation?” zusammengekommen. Die beiden Leiter haben versucht, mir stark vereinfacht zu erklären, worum es dabei geht: Sie ergründen, wie sich die Atome in Gasen bei extrem tiefen Temperaturen verhalten. Statt chaotisch durcheinanderzuwirbeln, bewegen sich die ultracoolen Atome plötzlich im Gleichschritt, als wären sie ein einziges Atom. Vielleicht lassen sich mithilfe von Bose-Einstein-Kondensaten eines Tages Quantencomputer bauen. Aber erst einmal müssen die Wissenschaftler im Detail erforschen, was die Teilchen da genau tun, mit welchen Methoden sich das erfassen und mathematisch beschreiben lässt, und natürlich weiterhin, wie sich die Materie am günstigsten in die Nähe des absoluten Nullpunktes herunter kühlen lässt. Daher der lateinisch-englische Titel, den man frei etwa so übersetzen könnte: Was wissen wir über die Bose-Einstein-Kondensation und wohin könnte uns die Beschäftigung damit führen?
Ich halte mich derweil lieber noch ein wenig in der Näher der Biologie auf. Und frage Frank Jülicher, den Leiter der Abteilung “Biologische Physik”, wie es zu der Annäherung zwischen den beiden vermeintlich so unterschiedlichen Disziplinen kam.
“Ein gegenseitiges Interesse gab es schon immer”, sagt er. Beispielsweise widmete sich der Physiker Max Delbrück schon in den 1930er Jahren der Frage, wie Gene beschaffen sein könnten. Erwin Schrödinger, Mitbegründer der Quantenmechanik, macht sich 1944 in einem Buch Gedanken dazu, was Leben ausmache. Und als es zu Beginn der 1950er Jahre gelang, die Struktur des Erbmoleküls DNA aufzuklären, war dies im Wesentlichen einer physikalischen Methode zu verdanken, nämlich der Analyse von Röntgenbeugungsmustern an kristallisierten Molekülen. Das Teilgebiet der Biophysik ist lange etabliert.
Doch Leben zeichnet sich dadurch aus, dass unbelebte Moleküle ständig in Aktion sind. Sie treten in Wechselwirkung mit anderen Molekülen, sie regulieren Vorgänge oder werden selbst reguliert, sie organisieren sich zu größeren Strukturen und zerlegen diese wieder. Und all das scheinbar chaotische Gewusel einzelner Teilchen bewirkt sichtbare Veränderungen im gesamten System, ob das nun eine einzelne Zelle, ein Gewebe oder ein ganzes Lebewesen ist. Kein Wunder also, dass biologische Vorgänge den Physikern lange Zeit zu komplex waren, um darin, wie sie es sonst tun, einfache Prinzipien zu erkennen und diese in elegante Gleichungen zu gießen.
Die Revolution in der Molekularbiologie vor rund zwanzig Jahren hat auch der Physik einen ganz neuen Zugang eröffnet: Seither können nicht nur ganze Genome entziffert oder einzelne Gene ein- und ausgeschaltet werden. Die Forscher vermögen inzwischen auch zu verfolgen, wann und wo bestimmte Gene in Proteine “übersetzt” werden. Mithilfe raffinierter Markierungen und neuer Mikroskopiertechniken können sie das Werden und Vergehen von Proteinen innerhalb von Zellen in Echtzeit verfolgen. Damit sind biologische Vorgänge aus der Perspektive der Physik zu “raumzeitlichen Prozessen” geworden, denen sie sich mit quantitativer Beschreibung und Theoriebildung nähern kann. Für die Biologie hat dies wiederum die Chance eröffnet, Erklärungsmodelle zu formulieren anstatt wie zuvor nur Beobachtungen zusammenzufügen und Rückschlüsse zu ziehen.
Als Frank Jülicher 2002 nach Dresden geholt wurde, um innerhalb der Physik komplexer Systeme eine neue Abteilung aufzubauen, suchte er gezielt die Zusammenarbeit zwischen den beiden Max-Planck-Instituten, die scheinbar so verschiedene Themen wie die Entstehung von Geweben und das Verhalten kondensierter Materie erforschen. Jülicher hatte in seiner Doktorarbeit die physikalischen Eigenschaften jener Doppelschichten aus Fettmolekülen untersucht, die in Zellen eine wichtige Rolle als “Trennwände” spielen. Sein Interesse an den biologischen Fragestellungen sei allerdings erst richtig erwacht, erzählt er, als er am Pariser Institut Curie in eine fächerübergreifend arbeitende Forschungsgruppe kam.
Inzwischen ist der Brückenschlag auch in Dresden fest etabliert. Zwischen dem blaugrün schimmernden Gebäude nahe dem Elbufer, wo die Molekularbiologen experimentieren, und der orange akzentuierten Denkfabrik im Süden der Stadt herrscht ein reges Hin und Her. Neben Gabby & Abi haben sich weitere “Paare” gebildet, und manche der Wissenschaftler haben wie Materieteilchen zwei Zustände: Mal sind sie hier, mal da.
Und sie reden viel miteinander: über Mikrotubuli und Motorproteine, über die Dynamik des Zellskeletts und eben auch über das Flüssigkeitsverhalten von Geweben. Manchmal fänden die Physiker andere Aspekte interessant, als sie den Biologen wichtig seien, sagt Frank Jülicher. Und es habe seine Zeit gedauert, bis beide Disziplinen zu einer gemeinsamen Sprache gefunden hätten. Aber: “Wir haben in letzter Zeit einige Teile in das große Puzzle einfügen können.”
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