Ich wage mich allmählich in die “richtige” Physik vor. Die Physik also, die sich mit unbelebter Materie und ihren Eigenschaften befasst.
Zwei Mal habe ich versucht, in Seminaren mitzubekommen, was die Menschen forschen, die am Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme zwischen Büros, Kaffeemaschinen und Seminarräumen unterwegs sind und dabei sehr in ihre Gedanken vertieft wirken.
Zwei Mal bin ich gescheitert. Es war, als sprächen die Vortragenden Chinesisch. Keine Ahnung, was die Zeichen und Grafiken auf den Powerpoint-Folien beschrieben. Bei dem gruppeninternen Seminar der Netzwerk-Experten, die mich netterweise adoptiert haben, konnte ich das im anschließenden Gespräch einigermaßen klären. Bei dem Vortrag zum gruppenfremden Thema “Verschiedene Aspekte der Lokalisierung von Wellen nach Unordnung, Nichtlinearität und anderem…”, so habe ich beim Mittagessen mit den Netzwerkern erfahren, blieb allerdings auch manchem gelernten Physiker der Zugang verschlossen.
Jetzt bin ich der freundlichen Einladung von Holger Kantz gefolgt, mir ein Bild von seiner Forschung zu verschaffen. Er leitet die Gruppe “Nichtlineare Zeitreihenanalyse” und sitzt hinter einem Papiergebirge, unter dem sich vermutlich ein Schreibtisch verbirgt. Nach anderthalb Sätzen muss ich ihn stoppen: Wir müssen erst einmal Begriffe klären. Physiker und Nichtphysiker sprechen zu unterschiedliche Sprachen.
Was heißt eigentlich komplex? “Komplexe Systeme müssen nicht unbedingt kompliziert sein”, sagt Holger Kantz. Komplex sind sie, wenn die einzelnen beteiligten Faktoren zwar bekannt sind, sich aber auf so unterschiedliche Weise gegenseitig beeinflussen können, dass schwer vorauszusagen ist, wie sich das Ganze verhalten wird. Zum Beispiel ist der Verkehrsfluss auf den deutschen Autobahnen ein komplexes System. Oder das Wetter. Und das verhält sich entschieden nichtlinear. Was heißt das? Laienhaft gesprochen, kann jede kleine Veränderung oder Störung des Systems dem Ganzen eine völlig unvorhersehbare Wendung geben. Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann sich so, wenn eine Verkettung von Zufällen es will, an anderer Stelle zu einem Wirbelsturm aufschaukeln.
Kantz und seine Mitarbeiter entwickeln mathematische Modelle, um eben doch Voraussagen treffen zu können – selbst für Systeme, über deren einzelne Faktoren man kaum etwas weiß. Die theoretisch erdachten Modelle gleichen sie dann mit echten Messergebnissen ab, beim Wetter zum Beispiel mit Wetterdaten aus vergangenen Jahrhunderten, um zu testen, wie genau die Modelle sind. Damit hätten wir auch den Begriff der Zeitreihe geklärt: Das sind beispielsweise die Wettermessdaten im zeitlichen Verlauf.
Allerdings wird die Prognose nie so eindeutig ausfallen, dass auch Laien etwas damit anfangen können. Füttert man Computer mit bestimmten Ausgangsdaten und lässt dies nach den theoretischen Modellen durchrechnen, kommen immer “nur” Wahrscheinlichkeiten heraus. Und ein Modell gilt dann als zuverlässig, wenn es bestimmte Ergebnisse mit der gleichen Häufigkeit hervorbringt wie die Realität. Wenn also eine Regenwahrscheinlichkeit von 30 Prozent herauskommt, bedeutet das in der Sprache der Physiker: Im Durchschnitt vieler Tage wird es an 30 Prozent der betrachteten Tage regnen. Je näher der Anteil der tatsächlichen Regentage bei 30 Prozent liegt, desto besser das Modell.
Was versteht der Laie darunter? Soll er einen Schirm mitnehmen oder eher nicht, wenn er morgens im Radio hört, die Regenwahrscheinlichkeit betrage 30 Prozent? “Er muss seine eigene Kostenfunktion auswerten”, antwortet Holger Kantz: “Wie viel ist es ihm wert, möglicherweise nicht nass zu werden?”
Hm. Ich muss ihn wohl bitten, mir ein theoretisches Modell dafür zu entwickeln. Aber im Ernst: Bei dem ganzen Formulieren und Rechnen hat sich herausgestellt, dass die bisher von den Wetterdiensten verwendeten Modelle die Bandbreite der möglichen Abweichungen einschränken. Womöglich, weil sie zu genau sein wollen. Gerade dadurch liegen die Prognosen aber manchmal neben den tatsächlich gemessenen Werten. Die Wissenschaftler der Kantz-Gruppe haben sich die Daten des Deutschen Wetterdienstes vorgenommen und analysieren jetzt, wann die Ergebnisse jeweils danebenliegen, um voraussagen zu können, wann die Voraussagemodelle danebenliegen.
Modelle sind jedoch immer nur Annäherungen. Selbst die Daten, die ihnen als Ausgangswerte eingegeben werden, beruhen auf Messungen, die kleinere oder größere Fehler enthalten. Und auch das “Eichen” der Modelle durch Abgleich mit tatsächlichen früheren Verläufen birgt Ungenauigkeiten und Ungewissheiten: Vielleicht wandten frühere Wissenschaftler andere Messmethoden an, oder bestimmte Werte wurden damals noch gar nicht erhoben. “Wir können eigentlich nur sagen, wie ungenau wir sind und ob das genau genug ist”, sagt Holger Kantz: “Wir Physiker wissen, dass immer auch die Möglichkeit besteht, dass vielleicht alles ein bisschen anders ist. Aber wir haben dafür noch keine allgemein verständliche Sprache gefunden.”
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