Für die Genomforschung könnte 2007 zum Schicksalsjahr werden. Das Fachmagazin Science kürte die Entschlüsselung der genetischen Variabilität des Menschen zum Durchbruch des Jahres. Zu Recht – aber vielleicht in einem anderen Sinn als von Science gemeint. Denn die Ehrung zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem sich die so fundiert gebende Genetik bewegt. Und 2007 könnte als das Jahr in die Geschichte eingehen, in dem ihre Forscher den Boden unter den Füßen verloren.
Vor sieben Jahren hatten Craig Venter und das Humangenomprojekt das menschliche Erbgut entschlüsselt. Nun ist die DNA jedes Einzelnen dran. Erste Firmen bieten ihre Dienste interessierten Privatpersonen an. Die komplette Sequenzierung kostet zwar zwischen 300.000 und einer Millionen Dollar, aber eine abgespeckte Version ist bereits ab 1000 Dollar zu haben. „Früher haben wir in der DNA nach dem gesucht was uns zu Menschen macht, heute suchen wir nach dem Ich“, schreibt Science in der Begründung für seine Entscheidung. Das klingt gut. Aber was haben wir davon?
Genveränderungen, die Diabetes, Herzinfarkte oder Depressionen auslösen – oder auch nicht. Marker, die uns sagen, dass unsere Kinder intelligent, aggressiv oder hyperaktiv sein werden – vielleicht aber auch nicht. Denn meist bestehen die Zusammenhänge lediglich als Korrelationen. Hunderte, wenn nicht gar tausende Faktoren beeinflussen das Ergebnis. Und am Ende kann alles auch ganz anders ausgehen.
Damit hat die Genetik das Ungefähre wieder in die Naturwissenschaften eingeführt. Was umso erstaunlicher ist, weil sie ursprünglich mit dem exakt gegenteiligen Ziel angetreten ist. Ihre Forscher wollten Wahrscheinlichkeit durch Wahrheit ersetzen. Nun entdecken sie, dass gerade in der Wahrscheinlichkeit viel Wahrheit steckt. Genetiker suchten eine neue Einfachheit, entdeckt haben sie Komplexität. Sie haben Allgemeingültiges gesucht und Individualität gefunden.
Noch deutlicher macht dies die relativ neue Erkenntnis, dass das Erbgut sogar auf Umwelteinflüsse wie Ernährung oder länger anhaltenden psychischen Stress reagiert. Veränderungen in der Genaktivität sind die Folge, die sogar vererbt werden können. Wir sind nicht nur, was unsere evolutionären Vorfahren waren, sondern ebenso, was wir aus uns gemacht haben und was unsere Eltern aus sich gemacht haben. Kurz gesagt: Wir sind ziemlich komplex. Damit hat die Genforschung der Naturwissenschaft eine Erkenntnis beschert, für die sie Soziologie und Psychologie lange verlacht hat: dass das Leben nur wenige Sicherheiten zu bieten hat, dafür aber umso mehr Wahrscheinlichkeiten.
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