Für die Messung einer konkreten Ausgabe einer Publikumszeitschrift werden mehrere Tags, die eine Empfangsantenne enthalten, auf jede Doppelseite der zu testenden Ausgabe der jeweiligen Zeitschrift platziert. So wird die Identifikation der Nutzung eines einzelnen Exemplars auch unabhängig von Ort und Zeit ermöglich.
Das Lesegerät, der sogenannte „Reader” (entwickelt im Auftrag des FOCUS Magazin Verlages / Hubert Burda Media) bildet die Ummantelung, in die die zu testende Ausgabe der Zeitschrift eingespannt wird. Es aktiviert die in der Heftmitte einer jeden Doppelseite angebrachten Tags, so dass die Seitennutzung dieser Doppelseite automatisch registriert werden kann.
Wie ist das zu erklären?
Ein Schlüssel zur Erklärung liegt in kurzen Seitenkontakten von teilweise weniger als einer Sekunde Dauer. Neue Erhebungsverfahren erfordern hier neue Erklärungsansätze. Klassische Attributionsforschung nach dem Prinzip gerichteter Aufmerksamkeit und bewusster Entscheidungsbildung funktioniert dann nicht mehr, wenn unbewusste Mechanismen am Werk sind. Die Neuroforschung hat hier seit ein paar Jahren erfolgreich Einzug in die Marktforschung gehalten und postuliert sogenannte „implizite Verarbeitungsprozesse”. Es gibt nach jüngeren Erkenntnissen der Gehirnforschung einen Wahrnehmungskorridor zwischen der Reizwahrnehmung z. B. einer Anzeige (nach etwa 150 bis 200 Millisekunden) und deren bewusster Reizverarbeitung i. S. eines Sich-Erinnern-Könnens (nach etwa 300 bis 400 Millisekunden). Dieser Wahrnehmungskorridor – wenn man so will eine Art Blackbox – betragt demnach etwa 150 bis 250 Millisekunden. Hier wird folglich etwas wahrgenommen, man ist sich dessen aber nicht bewusst. Dabei ist ergänzend zu berücksichtigen, dass die Bewusstwerdung einer – nur kurzen – Wahrnehmung komplex und daher eher zeitaufwendig ist, da mehrere Areale im Gehirn über Verarbeitungsschleifen aktiviert werden müssen.
Die Forschungen von Benjamin Libet (beginnend 1983; umfassend beschrieben z. B. in Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln (Suhrkamp Taschenbuch 2003), S. 518 ff.) haben erstmals gezeigt, dass ein Aktivierungspotenzial zum Ausführen einer Handlung bereits vor der bewussten Entscheidung, dies zu tun, nachweisbar ist. Das wiederum lässt den Schluss zu, und das ist das Spannende daran, dass einfache Handlungen auch ohne Bewusstwerdung zustande kommen können, die Bewusstseinschranke quasi unterlaufen. Es ist deshalb davon auszugehen, dass Seitenkontakte und einfache Wahrnehmungsprozesse auch ohne bewusste Reflexion darüber stattfinden können. Ein Kontakt im Zehntelsekundenbereich reicht eben definitiv nicht aus, einen Text oder einer Bilderstrecke weitergehend (explizit) zu verarbeiten, wohl aber, um das Dargestellte (implizit) schnell auf seine individuelle Relevanz zu „scannen”. Im Falle einer Anzeige kann man hier daher von einem wirksamen Kontakt sprechen. Sollte der Scanvorgang zu dem Ergebnis führen „das Dargestellte ist für mich relevant”, würde aus dem impliziten ein expliziter Verarbeitungsprozess, der auch Erinnerungsspuren hinterlässt. Dies liefert einen überzeugenden Grund dafür, dass erfragte Erinnerung z. B. an den Kontakt mit einzelnen Seiten einer Zeitschrift, deren tatsächliche Anzahl an Nutzungsakten bzw. Seitenkontakten teilweise deutlich unterschätzt. Die (ex post) Entscheidung darüber, ob eine Seite betrachtet wurde, kann überdies genauso gut davon abhängig gemacht werden, ob man sich dafür interessiert bzw. es für sich als bedeutsam erachtet („habe ich gesehen”) oder eben nicht („habe es nicht gesehen”). Ein „Attributions-Bias” kann so einen Wahrnehmungs-Akt überlagern, ein valides Ergebnis ist dann mittels Befragung nicht zu erhalten.
Das zeigt uns nicht nur die Grenzen der (erinnernden) Befragung auf, es macht auch deutlich, wie wichtig die Hinzuziehung (neuro)physiologischer Erklärungsmodelle zur Beschreibung der Wirkungsmechanik, z. B. für Rezeptionsprozesse bei Medien ist. Nach wie vor ist die empirische Sozialforschung noch überwiegend geprägt von soziologischen und sozialpsychologischen Erklärungsmodellen. Höchste Zeit, hieran bestehende (und mittlerweile gar nicht einmal mehr brandneue) Erkenntnisse der Biologie und Neurologie anzudocken, um so letztlich auch das jeweils geeignete Methodeninventar zu justieren bzw. zu identifizieren.
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