Die Zeiten, in denen Politiker mit einer “geistig moralischen Wende” Themen zu setzen versuchten, sind schon längst vergessen. Aktuell dominiert der “Wutbürger” nicht nur die Hitlisten der Sprachwissenschaftler. Es scheint eine große Unzufriedenheit mit der politischen “Kaste” zu geben, der es immer weniger gelingt, ihre Botschaften erfolgreich an das Wahlvolk zu bringen und dies zu inhaltlicher Auseinandersetzung zu bewegen. Die Medien als Mittler, als Initiatoren einer, ich will es mal als “Debattenkultur” bezeichen, sind gefordert. Doch können Sie dies in einer unterhaltungsdominierten Medienwelt überhaupt leisten?
Als ich neulich auf dem Weg zur Arbeit in der S-Bahn jemanden sah, der stolz einen “Anti-Atomkraft”-button am Revers trug (und damit wie ein Exot wirkte), fühlte ich mich an Zeiten meiner Jugend zurückerinnert. In den 1980er Jahren gehörten solche Symbole flächendeckend zum “guten Ton”. Leidenschaftliche Auseinadersetzungen prägten die gesellschaftspolitische Debatten-Bühne, Jugendliche entzweiten sich mit ihren Eltern, der Riss ging quer durch die peer-groups in den Schulen.
Heute sind Debatten doch vielmehr Medienevents, erfordern aber nicht mehr die aktive inhaltliche Auseinandersetzung bzw. Teilnahme oder aber das (kompromisslose) Beziehen von Positionen (und, so meine These, stoßen dadurch letztlich auf weit weniger Interesse). Mit den Massenmedien werden Themen “gehypet”, und manchmal verschwinden sie auch schnell wieder, wenn das mediale Interesse daran verloren geht. Ob Stuttgart21, Sarrazins “Integrationsdebatte” oder etwa der Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr (oder gar die Abschaffung der Wehrpflicht), das zweifellos vorhandene Debattenpotenzial stößt auf wenig fruchtbaren Boden, seit dem ein Position Beziehen offensichtlich nicht mehr zum allgemeinen Verhaltensrepertoire mündiger Bürger gehört. Fehlt es an den Vorraussetzungen hierfür? Es prallen anno 2011 eben keine Weltanschauungen mehr aufeinander, wie das in Zeiten der Abrüstungsdebatte (ebenfalls in den 1980er Jahren) noch der Fall war.
Tatsächliche oder potenzielle Debatten(“stoffe”) von heute tun sich schwer, nachhaltig zu wirken und so eine ausgiebige Debatte erst zu ermöglichen. Und mit ihnen auch oft Medien, die eine solche Kultur (wieder)beleben möchten. Die Debatten von heute, wie sie im “politischen Berlin” geführt werden, reißen nicht mehr wirklich mit. Es fehlt ihnen in der Wahrnehmung das “gewisse Etwas” früherer Jahre, das auch (oder vielleicht gerade) aus der unmittelbaren Betroffenheit Einzelner (in großer Zahl) herührte. Heute findet man hier vielmehr regionale Aktions-Schwerpunkte (Gorleben, Stuttgart).
Thilo Sarrazins publizistische Erfolge (wieviele der Käufer haben es eigentlich gelesen?)spiegeln keine lebendige Debattenkultur in Deutschland wider (dazu erfolgt viel zu wenig kritische Reflexion dazu), sondern sind vielmehr Zeichen einer medialen Unterhaltungskultur, bei der es im Kern für den Einzelnen darum geht, (über die Medien) dabei gewesen zu sein, den Moment wahrgenommen zu haben, eben dazu zu gehören und ggf. im small talk nicht abseits zu stehen. Eine kritische Reflexion und Diskussion, ein Austauschen von Für und Wider sähe anders aus und würde den Themen auch zeitlich mehr Spielraum geben, nicht bereits nach Wochen im Bewusstsein der Bevölkerung verpufft sein.
Nein, es fehlen nicht die gesellschaftspolitischen Themen, die eine breite Debattenkultur möglich machen. Es fehlt in der Bevölkerung und bei den politischen Meinungsbildnern vielmals an identitätsstiftenden (politischen) Positionen, die die Fähigkeit und Grundlage zu einer “Debattentauglichkeit” begründen. Journalismus, der auf politische Debatten setzt, überschätzt sein Publikum, insbesondere im Hinblick auf seine Zahl. Die Zahl der Menschen, die dies honorieren, dürfte 2011 im Vergleich zu früheren Jahren doch deutlich geringer sein.
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