Ich war am Wochenende in meiner Heimat: Bochum, westfälisches Ruhrgebiet (ein kleiner Werbedschingel: recht gute Uni, deutlich grüner als man denkt, ein Chemienobelpreisträger [wer kennt ihn, ohne zu googeln? War auf meinem Gymnasium], ein gutes Schauspielhaus, und eine Architektur, die immer wieder in einem den Wunsch aufkommen lässt, alles nochmal von vorne anzufangen). Wie sicher alle mitbekommen haben, waren gestern die NRW Landtagswahlen und so war die Bochumer Kortumstrasse – zentrale, ach so vertraute und doch so öde Einkaufspassagenwüste – vollgepackt mit Politständen. Das Schicksal wollte es, dass ich auf eine schuhe-aussuchende Tochter warten musste. Reichlich Zeit also, mit sämtlichen politischen Parteien an ihren bunten Ständen über eigentlich alle Probleme der Republik zu diskutieren, anschliessend einen Kaffee zu trinken, und dann auf die Dämmerung zu warten. Am Wahlkampfabschlusstag waren auch fast alle Spitzenkandidaten da und da ich ja hier von Primaklima bestens geschult bin, habe ich sie mir alle vorgeknöpft. Ein kurzer Bericht von der Front.
Bild: Der Ort des Geschehens. Die Bochumer Innenstadt. So anonym und austauschbar mit der exakt gleichen Mischung aus Fressständen und Damen-boutiquen-ketten wie überall in der Republik, dass man nie genau weiss, ob man jetzt in Bochum, noch in Dortmund oder schon in Essen ist. Diese Erkenntnis ist auch als die Einkaufsöden-Erweiterung der Heisenbergschen Unschärfe bekannt geworden.
Die Piraten: Ich habe vor ein paar Monaten das erste Mal von den Piraten gehört. Seit nun 16 Jahren emigriert, habe ich die orangene Revolution überhaupt nicht mitbekommen. Überhaupt nicht. Was sind denn das für welche? Die Broschüre versprach unter Gesundheitspolitik, dass unbedingt was für die Legalisierung von Cannabis getan werden muss. Ich dachte, dass das wichtigste Thema in der Gesundheitspolitik momentan die Finanzierung ist. Aber nein, es scheint sogar, weiss der Kuckuck warum, dass das Gesundheitsprogramm der Piraten sehr gut bei jungen Menschen ankommt. Meine Einstiegsfrage (ich hatte mich gründlich vorbereitet und beim Einkaufstütenfüllen immer mal rauf zu den Plakaten geschlinzt) war auch gleich wissenschaftlicher Natur: Was sie denn gegen gentechnisch veränderte Pflanzen hätten? Das hätte der Mensch ja nun schon ewig so gemacht. Ausserdem seien doch solche Produkte wie der golden rice ein wahrer Segen für die Menschheit. “Ja, nee” meinte eine adrette Mitdreissigerin, “sie selbst hätte eigentlich konkret zu dem Thema jetzt auch keine Ahnung und auch keine Meinung. Das Interessante an den Piraten wäre doch gerade, wie so eine Meinung dann trotzdem zu Stande kommt“. Das wiederum fand ich nicht so interessant und stapfte weiter zur FDP. Die erste Kontaktaufnahme verlief eher, hmm, entäuschend. Eine Art Meta-Partei. Themen sind nicht so wichtig, eher der Dreh wie man auf das Resultat kommen soll. Ich gebe also eine postmoderne 4.
Weiter zur FDP. Hier stieg ich gleich ein mit dem Kandidaten selber zu diskutieren. Ich hab ihn später auf den Plakaten wiederentdeckt. Klar, Primaklima gibt sich nicht mit halben Sachen ab. Komm, her, du Kandidat. Haarschnitt und Dynamik waren ganz klar FDP. Sehr gut. Der wiederum begrüszte mich mit den Worten: “Ach, wenn Sie jetzt schnell zur SPD rübergehen, können Sie ein Foto mit dem Müntefering machen”. Fast wäre er wohl auch rüber gesaust und hätte sich ein Autogramm von Münte geholt. Münte hängt ja jetzt dauernd bei uns in Bochum herum, weil seine 79 (oder so) Jahre jüngere Ehefrau hier wohl den Bundestagssitz übernehmen will. In Sachen Politprominenz liegt Bochum nun also ganz weit vorne, neben dem Team Münterfering, geht hier nämlich auch der Norbert Lammert an den Start. Na und der ehemalige NRW Ministerpräsident und ehemaliges SPD Mitglied Wolfgang Clement ist auch aus Bochum. Da sage noch einer Provinz.
Aber zurück zur FDP. Die FDP hatte eine Broschüre mit den Verboten, die sie verbieten wollten. Schliesslich ist ja Freiheit so ein Thema bei den Liberalen. Das Symbol des Verbots war ein durchgestrichenes Cocktailglas. Und das Verbot des Verbots wurde durch ein sich bedrohlich näherndes FDP Radiergummi symboliert . War das die Lounge Version der Piraten-Cannabis-Strategie? Konkret soll es wohl darum gehen, dass Tankstellen so lange Alkohol verkaufen können sollen, wie sie es wollen. Nun gab ich zaghaft zu bedenken, dass Bochum ja nicht Bad Godesberg sei und es ja schon ein paar Problemviertelchen gäbe, in denen die Berufstrinker doch wenigstens ab und zu mal und wenigstens kurz vorm Schlafengehen vom weiteren Nachschub abgeschnitten sein sollten. Anscheinend kannte er diese Viertel aber nicht und meinte etwas von Bevormundung. Eine wirklich gute Diskussion hatten wir aber zum Schlagwort Ökodiktatur und dem sächsischen FDP Europaabgeordneten und Klimaschmock-Anwärter Holger Krahmer. Dank an Christian Reinboth für den Vorschlag. Der Krahmer verarbeitet anscheinend immer noch die SED und den Mauerfall und hat diesen schönen Satz geschrieben:
Der Gulag mit neutralem CO2 Fussabdruck steht vor der Tür. Na, in Bochum fand die FDP das aber auch ein bisschen seltsam (beschämte Blicke) und meinte, dass Sie gegen etwa bestimmte energiesparende Bauverordnungen nicht grundsätzlich etwas hätten, obwohl es ja Verordnungen wären. Dabei sprach er das Wort “Verordnung” ungefähr so aus, wie Hautekzem. Alles in allem: Bescheidenes, jugendliches Auftreten (Guck mal, der Müntefering!), Alcohol around the clock und tatsächlich daran interessiert über Politik zu reden, was sich im weiteren Verlauf noch als selten herausstellen sollte. Dafuer eine 2-.
Weiter zur CDU. Ein logistisches Trauerspiel. Ein übles Schicksal hat es gewollt, dass sie sich in nur 20 Meter von der weiter oben lauernden SPD aufbauen mussten, die akustisch die ganze Einkaufsöde mit einem Musikteppich bedeckten. Ferner bot man Waffeln an, während man oben bei der SPD Currywurst bekam. Da gibt es leider im Ruhrgebiet keinen besonders spannenden Zweikampf. Mein Suchen nach netten Broschüren war vergeblich. Es gab nur Papiertücher. Und mitten in all dem Trubel erkannte ich den Landtags-Kandidaten. CDU Direktkandidat in Bochum. Gibt es überhaupt etwas Einsameres in diesem Universum? Sicher, mag Florian kontern, und auf einige isolierte Kleinstgalaxien weit hinter Beteigeuze verweisen. Trotzdem. Da stand er nun und hatte drei Topfpflanzen in der Hand, die er wohl verschenken wollte. So leer und traurig sein Blick klammerte er sich an die Begonien und an seine Lesebrille und verschmierte sich langsam das Jacket. Spontan wollte ich ihn in den Arm nehmen und übers schüttere Haar streicheln.
Wusste er es denn nicht? Der letzte CDU Direktkandidat in Bochum könnte nach Ausgrabungen und umfangreichen Datierungsarbeiten in der Jungsteinzeit gelebt haben. Und mindestens solange wird es wohl nochmal dauern bevor es den nächsten gibt. Fazit: Niemand zum Gespräch bereit, ein Waffeleisen setzte den ganzen Stand unter Rauch, der traurigste Kandidat seit Andrej Tarkowskij aufgehört hat, Filme zu drehen. Note: 5.
Weiter zur SPD. Partytime. Münte hielt noch eine Stehgreif-Rede. Selbst die bei uns in Bochum ja reichlich vorhandenen silbergetönten Mitsiebzigerinnen fingen schon an sich im Takt seiner Stimme zu wiegen. What a man! Hinter ihm wurden die Currywürste rausgehauen, als gäbe es kein morgen. Ich zögerte einen Augenblick. Soll ich?
Ich gab mich aber mit ein paar Rosen zufrieden. Schon war ich für den Muttertag fertig ausgestattet. Fazit: Euphorie bis zur Bewusstlosigkeit, Currywurst bis zum Abwinken, Münte auf Hochtouren, und doch eine Stimmung, als spielte der BVB gegen die Bayern. Man weiss mittlerweile schon was rauskommt. Langeweile auf hohem Niveau. Politische Diskussionen, keine. Und ehrlich gesagt, 200000 Jahren die gleiche Partei, irgendwie ist jetzt auch mal gut. Note 5.
Das Beste zum Schluss. Die Grünen. Die Grünen sind immer mit Kindern unterwegs. Während ich ja jeden Tag geniesse, an dem ich mal meine Ruhe habe, sind die selbst im Wahlkampf noch am Erziehen. Ein ganz reizendes, kleines Mädchen schenkt mir Kita-Plätzchen (feel the irony) und pappt mir blitzschnell einen Atomkraft Nein-Danke Aufkleber auf meine Jacke. Ich geh dann natürlich gleich in die Vollen und gebe mich als Mitarbeiter der französischen Atomenergiebehörde zu erkennen. Die Mutter bringt hastig ihr Kind in Sicherheit und sucht den Geigerzähler.
Das Spiel beginnt. Ob sie nicht meinten, dass durch das Abschalten der acht deutschen Kernkrafwerke das mit der CO2 Bilanz Deutschlands für die nächsten 10 Jahre erstmal geknickt werden könne? Nein, sagte er, das (also der Strom der acht Kraftwerke) sei ohnehin von der Energieindustrie hergestellter Strom ohne jede Verwendung gewesen, der “einfach so in die Luft geblasen worden sei“. Ich habe mehrfach nachgehakt. Nichts zu machen. Noch vor kurzem wurden in Deutschland ganze 8500 MW Leistung produziert, und zwar für nix, ausser dem Profit der Energiebosse, die man sich am besten mit zwei Hörnern und Ziegenfüssen vorstellt.
Dann aber mein Lieblingsgambit. Warum er vom Klimawandel überzeugt sei? Antwort, anerkannte Wissenschaftler, IPCC, Evidenz, wissenschaftliche Paper, etc. etc. (ich gebe ihm in Gedanken einen Kuss). Ob er wisse, dass diese Arbeiten und der IPCC diskutiert und hart angegriffen würden? Klar, Lakaien der Erdöl-Industrie, Ewiggestrige, etc. etc. Ob er wüsste, dass es einen dem IPCC ähnlichen UN-Bericht zu den Folgen Tschernobyls gäbe, der von weit geringeren Opferzahlen ausgehe als die Grünen und Greenpeace? Antwort, ja, aber diese UN-Wissenschaftler seien von der Atomindustrie gekauft, hätten keine wissenschaftliche Reputation, etc .etc. . Woher er wüsste, dass die einen UN Wissenschaftler gekauft seien und die anderen nicht? Ich schob mir noch ein Kita-Plätzchen in den Mund.
Fazit, viel Leidenschaft, nette Kinder, leckeres Gebäck, Retro-Kleidung, die mich an unser Schülercafe erinnerte. Note 3+.
So, ab ins Schuhgeschäft. Einmal muss auch Schluss sein.
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