Humane endogene Retroviren (HERVs) sind die Überbleibsel lange zurückliegender Infektionen. Nun haben Forscher herausgefunden, daß regulatorische Gensequenzen dieser Infektionsüberbleibsel an der Steuerung der Totipotenz von embryonalen Stammzellen (ES) beteiligt sind. Dabei stellen sie alternative Primersequenzen zur Verfügung, die es den ES-Zellen ermöglichen zwischen einem totipotenten und pluripotenten Stadium zu zyklieren. Im totipotenten Zustand kann die ES-Zelle sowohl alle embryonalen Gewebe, als auch extraembryonale Gewebe wie die Plazenta ausbilden. Pluripotente ES-Zellen dagegen besitzen nur die Fähigkeit embryonale Gewebe zu bilden.

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Kolonien von ES-Zellen (Bild: Wikipedia)

Normalerweise infizieren Retroviren somatische Gewebszellen und integrieren ihr Genom in deren genetisches Material. Dabei entsteht der sogenannte Provirus, von dessen Matritze alle viralen Proteine gebildet werden. Bei dieser Integration kann es zur Zerstörung oder aber auch Überaktivierung von benachbarten Gensequenzen kommen. In seltenen Fällen kann diese Retrovirusinfektion aber wohl auch in einer Keimzelle passieren, was dann zur Weiterverebung des viralen Genmaterials führen kann. Und in der Gesamtheit der Erdgeschichte, kam dies dann doch recht häufig vor. Das menschliche Genom umfasst ca. 100 000 solcher HERV-Elemente, ingesamt fast 8% unseres gesamten genetischen Materials. Die meisten dieser Elemente sind inaktiv oder besitzen eine bisher unbekannte Funktion, es gibt aber auch sehr gut dokumentierte Besipiele unglaublicher Anpassungen. So wurde ein virales Oberflächenprotein so adoptiert, das es heute massgeblich an der Bildung der Syncytiotrophoblasten beteiligt ist, dem Zelltyp, der die Grenzfläche zwischen Plazenta und Uterus ausbildet und den Nährstoffhaushalt des Embryos kontrolliert (hier mehr dazu ).
In der aktuellen Arbeit von Todd S. Macfarlan, Samuel L. Pfaff und Kollegen wurden ES-Zellen untersucht und molekulargenetisch charakterisiert. ES-Zellen werden aus der inneren Zellmasse von Blastozysten entnommen, einem bereits vielzelligen Embryonalstadium, dessen Zellen sich bereit in verschiedene “Schicksale” differenziert haben. Ein Teil der Zellen bildet den eigentlichen Embryo, während eine andere primitive endodermale Population die extraembryonalen Gewebe bildet, die den Embryo umgeben und eine dritte Population, das Trophectoderm ausbilldet, woraus die Hauptmasse der Plazenta entsteht.
Üblicherweise ging man davon aus, daß die ES-Zellen aus der inneren Zellmasse der Blastozyste “nur” pluripotent sind, also nur embryonale Gewebe ausbilden können, doch es wurde immer wieder beobachtet, daß ein geringer Anteil der ES-Zellen auch extraembryonale Eigenschaften besitzt, was auf eine Kontamination der ES-Zellpopulation zurückgeführt wurde.
In vorangegangenen Arbeiten hatte man festgestellt, dass sich die ES-Zellen als heterogene Population in einem metastabilen Genexpressionszustand befinden, also verschiedene steuernde Gene an- und abgeschaltet werden können. Zu diesen Genen gehören die ES-Zellmarker Zscan4, stella (aka Dppa3), Nanog, Sox17 und Gata6.
Die neuen Ergebnisse legen nun nahe, daß eine definierte Population innerhalb der ES-Zellen, und ebenfalls innerhalb induzierter pluripotenter Stammzellen (iPS), die Fähigkeit besitzt, graduell zwischen dem Status der Pluripotenz und einem totipotenten Zustand zyklieren zu können.
Dieser Vorgang wird von endogenen Retroviren (ERV), in diesem Fall dem Maus-ERV MuERV-L (aka MERVL oder Erv4) gesteuert. Dabei werden die sonst abgeschalteten Aktivierungssignale des ERV vorübergehend reaktiviert und steuern zeitweise bis zu 3% der gesamten Genaktivität des Embryos. Dies ist möglich durch die Verwendung von ERV-spezifischen Promotoren, den sogenannten langen Terminalen Wiederholungen (LTRs). Dies sind Gensequenzen, die das Ablesen eines Genes ankurbeln können, wobei dies alternativ zum eigenen Promotor des Gens stattfinden und diesen übersteuern kann. Um diesen Vorgang genauer zu analysieren wurden die Genprodukte der Maus-ERVs verwendet, um eine Unterscheidung der beiden Zellpopulationen zu ermöglichen und diese getrennt zu Untersuchen.
Dabei stellten die Forscher fest, dass fast 25% der vorhandenen MuERV-L-Elemente abgelesen wurden und von den insgesamt über sechshundert chimären Transkripten, also Genprodukten, die aus einem ERV und einem ES-Zellgen zusammengesetzt waren, über 90% eine Fusion mit einem ERV-Promotor (LTR) aufwiesen und ein korrektes offenes Leseraster bildeten, also wahrscheinlich ein funktionelles Genprodukt bildeten.
Dies legt nahe, daß MuERV-L Aktivität entwicklungsbiologisch gesteuert wird und die retroviralen Promotoren kooptiert wurden, um eine spezifische zeitliche Kontrolle über die Genexpression der Zielgene zu erlangen.
Ein schönes Beispiel, wie sich die Natur jedes Werkzeug, daß ihr zur Verfügung steht, übernehmen und durch Evolution an die gegebene Situation anpassen kann.

Todd S. Macfarlan, Wesley D. Gifford, Shawn Driscoll, Karen Lettieri, Helen M. Rowe, Dario Bonanomi, Amy Firth, Oded Singer, Didier Trono & Samuel L. Pfaff. Embryonic stem cell potency fluctuates with endogenous retrovirus activity. Nature (2012) doi:10.1038/nature11244

Kommentare (1)

  1. #1 Fliegenschubser
    Juli 3, 2012

    Sehr interessanter Beitrag. Da stellt sich natürlich sofort die Frage, wie die Aktivität der Viruspromotoren gesteuert wird. Wenn das durch andere, nicht-virale Mechanismen geschieht, wäre das tatsächlich bemerkenswert. Man sollte untersuchen, ob und wie und wo und wann derartige in das vorhandene Genregulationsnetzwerk eingebundene Viruspromotoren Einfluss auf die Evolution genommen haben. Und in diesem Zusammenhang natürlich auch die Funktionen von siRNA/miRNA und dergleichen auf die Aktivität der viralen Gene….sehr interessant das Ganze.