Auch in den Sozialwissenschaften gibt es so manche, die sich zu Kapitänen aufschwingen, die laut hier schreien und sagen, dass sie wüssten wie zu navigieren sei. Die stehen dann unbeirrt auf ihren (medialen) Booten, wenn sie schon prominenter sind auf ihren Schiffen, manche haben dann irgendwann Flotten und erklären der Welt wie sie funktioniert. Mein Lieblingsbeispiel: Filzmaier. Einer der sich sehr konsequent zum medialen Experten gemacht hat. Vom Tutor auf der Politikwissenschaft zum politischen Realitätsdeuter bei jeder Wahl. Ein wahrer Kapitän der Zusammenhangserklärungen. (Medien brauchen Gesichter, sonst kann nicht zugeordnet werden.)
Doch der Rest ohne Deutungshoheit? Die die kein mediales Booterl oder Schiff ihr Eigen nennen, die forschen um zu hinterfragen und zu ordnen? Unbrauchbar für den Alltag?
Sicher für den alltäglichen Alltag. 😉 Nicht aber um genau hinzuschauen. Die Schubladen auf den Booten zu hinterfragen, zu schauen welche Konsequenzen sie haben und zu fragen, ob es nicht andere mögliche Schubladen gäbe, ist eine Kernaufgabe der Sozialwissenschaften. Und ums wiederum zu relativeren und einzuschränken sind das vor allem die explorativen Sozialwissenschaften, die sich auf neues Terrain wagen. Unter die Oberfläche zu schauen, Zusammenhänge aufzudecken und sich neue Routen zu überlegen, ist manchmal ein unbequemes und irritierendes Tagesgeschäft.
Das soziale Miteinander ist genauso ein Forschungsgegenstand, wie alle anderen Disziplinen. Nur brauchen wir alle unsere Schubladen und Navigationsinstrumente, um durch den Alltag zu kommen. Alle ausnahmslos alle, auch die Menschen, die diese Art von Wissenschaft machen. Wir können nicht distanziert davon objektiv forschen und uns als Personen ausschalten, sondern müssen diese Schemata kennen, hinterfragen und uns vor allem bewusst sein, dass wir sie nie zur Gänze kennen werden. Verändert werden kann nur, was uns auch bekannt ist. Und diese Näherungen und Relativitäten in diesem Forschungsfeld machen diese Form von Wissenschaft auch so schwer greif- und verwertbar. Besser das gleich als wertlos zu etikettieren und damit in die Schublade für Unnötiges zu verfrachten? Oder im Wissen, um die Unzulänglichkeiten – die alle anderen Wissenschaften ebenso haben, aber das ist ein anderes Thema – den Gegenstand weiterzutreiben, um uns überhaupt bewusst zu werden mit welchen Schiffen, Flotten, Routen und Häfen wir tagtäglich agieren. Und um die Welt etwas gerechter, die Zugänge zu den Schiffen egalitärer, die Routen greifbarer und die sicheren Häfen offener zu gestalten?
Perspektiven einnehmen und sich dessen bewusst sein
Menschen sind nicht eindeutig. Gruppierungen, Organisationen, Gesellschaften, d.h. alle unterschiedlichen Zusammensetzungen menschlicher Ansammlungen sind nie klar abgegrenzt, nie konstant und in keinem Moment gleich. Eine der Grundkonstanten von Forschung in anderen Disziplinen, nämlich dass z.B. Experimente unter gleichen Bedingungen wiederholbar und gültig sein müssen, trifft auf Sozialwissenschaften nie zu. Wissenschaftliche Gütekriterien wie Reliabilität, Validität oder Objektivität sind Ideale, denen mit gewissen Regularien begegnet werden. Aber endgültig oder absolut können sie noch viel weniger sein als in anderen Disziplinen. Allein die Tagesverfassung eines Menschen ändert alles. Eine soziale Situation ist nicht wiederholbar, keine Situation kann der anderen je gleichen. Diesem Fakt begegnen die Sozialwissenschaften mit unterschiedlichen Strategien. Doch gemeinsam haben sie alle: Das Bewusstsein, dass alles relativ ist und viel Zeit darauf verwendet werden sollte gründlich und genau zu überlegen wie Forschungssettings aussehen, was sie bedingen und wie der sozialen Komplexität begegnet werden kann.
Unterschiedliche sozialwissenschaftliche Zugänge: Erklären versus Verstehen
Recht viele unterschiedliche Schifferln bilden die kleine Flotte der Sozialwissenschaften. Oft fahren sie auch im Verband mit Kultur- oder auch Geisteswissenschaften. Am bekanntesten und leichtesten greifbar sind die Richtungen, die versuchen Allgemeinheit zu beschreiben und die am wenigsten relativieren. Die oben erwähnten Kapitäne der (medialen) RealitätsdeuterInnen finden sich in diesem Sektor. Markt- und Meinungsforschung, Wahlumfragen, Evaluierungen mit unterschiedlichen Zielrichtungen: Kurz alles das mit Umfragen agiert und dabei versucht der Allgemeinheit gerecht zu werden und die Welt zu erklären – Repräsentativität meint dabei, dass die gezogene Stichprobe die Bevölkerung bzw. den adressierten Teil eines Bevölkerungsausschnittes abbildet. Und so gerne diese Ergebnisse medial verwendet werden, Zahlen sind immer großartig für JournalistInnen, so wenig aussagekräftig sind sie oft. Ein Beispiel dafür sind Wahlprognosen, die so gut wie nie treffsicher sind. Auch weil eine Stichprobe von 400 Personen nie die Aussagekraft haben kann, die eigentlich notwendig wäre. Die Fehlerquoten sind einfach zu hoch. Und trotzdem kommen genau aus diesem Gebiet die meisten ExpertInnen, die dann zu gewissen Anlässen ihre Meinungen und Prognosen zum Besten geben. Eben weil sie vorgeben etwas Absolutes sagen zu können, oft mit Zahlen aufwarten können und die Aussagen gut und recht simpel auf einige wenige Kernpunkte reduziert werden können. Komplexitätsreduktion ist nun einmal das Hauptgeschäft von medialer Berichterstattung.
Wesentlich weniger präsent und greifbar sind Ansätze, die versuchen zu verstehen. Hier ein kleines Beispiel aus dem entgegengesetzten Pol sozialwissenschaftlicher Arbeit, eines aus meiner Forschungspraxis: Ich arbeite als Kommunikationswissenschafterin, ein Zweig der üblicherweise sehr stark aus den oben erwähnten RealitätsdeutungskapitänInnen besteht und auch recht gern medial präsent ist, in einem sehr untypischen Feld. Seit 2008 beschäftige ich mich mit Architektur und Stadt im weiteren und mit Wohnbau im engeren Sinne. Auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich? Scheint so, zumindest reagieren KollegInnen, vor allem aber Studierende meist recht irritiert. Kommunikation und Bauen haben für diese auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun. Literatur dazu ist spärlich, Forschung dazu eher selten, d.h. es gibt kaum befahrene Routen und nur einige Expeditionsschifferln, die sich in diese Gewässer bewegen.
Hier mit der gerade beschriebenen erklärenden und deskriptiven Forschungsweise vorzugehen, brächte nicht viel, da diese Vorannahmen und Vorwissen benötigen. Der Forschungsgegenstand muss also im Prozess mitgebildet, mitreflektiert und mitentworfen werden. Dazu sind gänzlich andere Skills und Strategien nötig. Um bei der Schiffsmetapher zu bleiben: Die nötigen Fahruntersätze sind zuerst eher Flößen ähnlich, werden beim Schreiben eines Antrages zu tragfähigen Booterln umgebaut, auf ein theoretisches und methodisches Fundament gesetzt um dem Forschungsgegenstand gerecht zu werden und werden letztendlich – Route und Ziel sind ja anfangs nicht klar – während der Fahrt laufend adaptiert. In meinem letzten Projekt ‚Modes of Design’ ging es genau um so einen Prozess: Die grundsätzliche Fragestellung war gut greifbar und kam aus dem Alltagsrepertoire meines Kollegen. Beim Bauen von Wohnbauten gibt es einen Entwurfsprozess mit verschiedenen Beteiligten. ArchitektInnen, Bauträger und noch einige ExpertInnen planen in unterschiedlichen Konstellationen die jeweiligen Gebäude. Während des Bauens sind diverse Firmen in unterschiedlichen Strukturen beteiligt. Wie genau diese Prozesse ablaufen, ist nie ganz ident, wenig beforscht und letztendlich in vielen Zügen im Sinne von Übersichts- oder Ordnungswissen unbekannt. Die beteiligten Personen agieren aufgrund von Ausbildungen, Erfahrungswerten und Annahmen.
Was wenig bis kaum geschieht ist die Auseinandersetzung mit den Menschen, die dann letztendlich aber die eigentlichen Betroffenen sind: Die Menschen, die in diesen Wohnbauten leben. Sie sind nur implizit Teil des Prozesses, werden von den professionell Beteiligten mitgedacht, mitkonstruiert und argumentativ verwendet. Gebaut wird also nicht für konkrete Menschen – das wäre im Massenwohnbau sehr aufwändig – sondern für imaginierte Vorstellungen. Welche das sind und woher diese kommen, wie diese verwendet werden und was das für einen Einfluss auf die Entwurfsprozesse hat, war eine der Perspektiven des Projektes. Dieses Wissen existiert nicht, sondern konnte nur erforscht, d.h. zusammengetragen, analysiert und auf eine systematisierende, theoretische Ebene gebracht werden. Ebenso wie die zweite wichtige Perspektive – und da steckt sicherlich auch unsere ‚hidden agenda’ dahinter – der Blickwinkel der BewohnerInnen. Da diese nicht real, sondern nur imaginiert, im Entwurfsprozess vorkommen, stellt sich die Frage, wie diese ihre bewohnten Gebäude überhaupt sehen. Ist das was im Entwurfsprozess gedacht, gestaltet und geplant wurde, für die BewohnerInnen erkennbar? Wie rezipieren diese ihre Wohngebäude? Wie werden diese genutzt und welche Prioritäten werden gesetzt? Auch diese Daten gibt es nicht, Literatur dazu ist nur in Grundzügen vorhanden und der einzige Weg hier zu Erkenntnissen zu kommen, war ins Feld zu gehen und zu erheben.
Im Prinzip schließt unser Projekt also auf wissenschaftlicher Ebene eine Lücke, die der Alltag offen lässt und aus seinem meist auf Erfahrungen basierenden Wissen nicht beantworten kann. Praktischen Nutzen hat das, bei allem Aufwand, allemal. Die oben erwähnte ‚hidden agenda’ ist sicherlich die Perspektive der BewohnerInnen, passenderweise im Entwurfsprozess meist als NutzerInnen betitelt, in Entwurfsprozesse einzubringen und zu reflektieren. Ebenso aber auch den professionell Beteiligten rückzuspiegeln was eigentlich passiert: Welche Ideen und Strategien verwendet werden, welche Richtungen es gibt und was dies alles im Baualltag mit sich bringen kann. Ein Ziel ist also das Gesamte weiterzuentwickeln und auch mögliche, neue Perspektiven zu eröffnen.
Diese Art zu forschen bedingt einen sehr offenen Zugang. Wenn nicht bekannt ist, wie die Routen und Wege laufen und welche Wassergefährte dafür zu gebrauchen sind, dann kann konsequenter Weise nur Offenheit als Prinzip gelten. Wenn andere Zugänge versuchen menschliche Komponenten wie VersuchsleiterInnen möglichst auszuklammern, um damit Wissenschaftlichkeit herzustellen – Beispiel dafür sind z.B. psychologische Experimente im Labor – kann dieser Zugang bei dem es um das Erforschung eher unerschlossener Gebiete geht, dies genau nicht tun. Das Wissen das in explorativen, interpretativen und qualitativen Projekten generiert werden soll, kann nur von Menschen mit Menschen direkt in der sozialen Welt, im Sozialwissenschaftssprech: Feld, erhoben werden. Versucht wird Phänomenen auf den Grund zu gehen, Zusammenhänge zu verstehen, Konzepte aufzuspüren und letztendlich damit auch für den Alltag anschlussfähig zu bleiben. Wir sammeln Narrationen und erzählen in gewisser Weise Geschichten aus dem Alltag. (Mehr dazu in einem späteren Beitrag.)
Die wissenschaftliche Güte liegt dabei nicht in den Instrumenten, wie das z.B. bei Umfragen mittels Fragebögen argumentiert wird, sondern in gewisser Weise in den handelnden Personen. Adele Clarke, Soziologieprofessorin in San Francisco und eine Vertreterin der im interpretativen Paradigma verhafteten Grounded Theory, hat dies letztes Jahr in einem Seminar sehr klar formuliert: Das Instrument sind wir, die Forschenden.
Dass dies viele Probleme mit sich bringt, viele Unklarheiten beinhaltet und die Unschärfen teils schwierig zu bemessen sind, liegt in der Natur der Sache. Ohne Erkenntnistheorie, viel Reflektion und letztlich Persönlichkeitsentwicklung funktioniert das nicht. Forschung die menschelt und menschelnde Forschung: Irritierend?
Das Projekt ‚Modes of Design’ ist finanziert vom FWF, dem österreichischen Wissenschaftsfonds, und angesiedelt an der TU Wien, Institut für Architektur und Entwerfen, Abteilung Gestaltungslehre unter der Leitung von András Pálffy. Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Projektes ist, gemeinsam mit der Autorin, Robert Temel. Abstract zum Projekt: https://www.fwf.ac.at/en/abstracts/abstract.asp?L=E&PROJ=P20362
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