Der letzte Teil des Zitates „und hast trotzdem Kommunikation mit deinen Nachbarn“ zeigt auf eine anderes Thema bzw. Wertigkeit. Die Kommunikation unter den Nachbarn scheint der diskutierenden Gruppe wichtig zu sein, an dieser Stelle dokumentiert sich diese Prioritätensetzung. Das Außen wird mit (zu?) viel Kommunikation verbunden, aber auch wenn man in das Innen wechselt ist Kommunikation da und möglich. Nämlich jene mit den vertrauten Personen, die hier wohnen, den anderen Beteiligten im (gallischen) Dorf.

Soweit zur Interpretation dieser einen Textstelle. Beim interpretativen Forschen geht es von der Zielrichtung her immer um die Generierung von Theorie. Womit keine Ontologien gemeint sind, d.h. keine umfassenden Welterklärungstheorien, sondern gegenständliche Theorien die den Alltag fassbar machen. An dieser Stelle des Transkripts wird die Grenzziehung zwischen Innen und Außen deutlich, mit dieser Konzeption ihrer Alltagswirklichkeit theoretisieren die BewohnerInnen ihr Wohnhaus. Die Thesen aus Transkriptzitaten werden in der weiteren Analyse überprüft und an unterschiedlichen Textstellen validiert, um gesicherte theoretische Aussagen über diesen Fall treffen zu können. Ist die Analyse eines Transkripts abgeschlossen, werden die Ergebnisse mit anderen Fällen verglichen und abstrahiert. Zuerst mit ähnlichen Fällen, hier stellt sich z.B. die Frage, ob es ähnlich gelagerte Konstruktionen von Innen und Außen gibt und was damit einher geht, später mit anders gelagerten Fällen die sich unterscheiden – deshalb ist die Dokumentation des Samplings, d.h. der Fallauswahl für den Forschungsprozeß enorm wichtig. Ziel ist es, wie beschrieben, sämtliche Konzepte in einem Feld – hier der mehrgeschossige Wohnbau in Wien – zu erfassen und eine theoretische Konzeption des Feldes zu erstellen.

Und was ist das theoretische Fazit aus diesem Gespräch, das sich auch an dieser Textstelle dokumentiert? Die diskutierende Gruppe verwendet durchgängig, an unterschiedlichen Textstellen festmachbar, eine Unterscheidung zwischen dem Innen und Außen. Das Innen ist das dominierende Element, jenes dem hohe Wichtigkeit zugesprochen wird und das für die Beteiligten positiver Bestandteil des Alltags ist. Das Außen wird in weiterer Folge als bunt, lebhaft und schön beschrieben, aber immer aus einer Distanz heraus. Die BewohnerInnen erweisen sich nahezu als BesucherInnen ihres direkten Wohnumfeldes. Der Markt umgibt zwar das Wohnhaus, gleichzeitig besteht aber eher wenig Kontakt damit. An manchen Stellen klingen die Beschreibungen fast wie Urlaubseindrücke. Diese Distanzierung hat Funktion und liegt auch in unterschiedlichen Milieus begründet. Ein Interpretationsstrang, der allerdings für eine kurze Erklärung hier im Blog zu großen Umfang hat, führt ins Thema des Umgangs mit Migration. An dieser Stelle hier möchte ich einen anderen Strang aufgreifen.

Das Innen ist auch deshalb so wichtig, weil es zum Zeitpunkt des Einzugs undefiniert war. Die BewohnerInnen rund um den Hof mussten sich ihren Hof erst aneignen. Von Seiten der Hausverwaltung und des Planers gab es kaum Vorgaben, der Hof entstand aus einer planerischen bzw. räumlichen Notwendigkeit. Der Prozess des Aneignens war ein gemeinsamer Aufwand, die gemeinsame und vor allem positive Bewältigung hat eine Gemeinschaft entstehen lassen. Funktioniert hat dies vor allem auch aufgrund der verschiedenen Kompetenzen der Einzelnen – in der Gruppe sind Berufszweige vertreten, die beruflich mit ähnlichen Dingen zu tun haben. Die beteiligten BewohnerInnen waren von ihrem Bildungsstand und aus ihrer Arbeitspraxis heraus fähig mit der Anfangssituation konstruktiv umzugehen. Dass diese Faktoren ausschlaggebend waren, zeigte sich an einem anderen Fall in dem die Gebäudesituation vergleichbar war, die BewohnerInnenstruktur aber nicht. (Dieses andere Gebäude diente hier zur Abstraktion des Falles.)

Durch eine ansonsten eher unübliche Situation im Wiener Wohnbau – undefinierte Flächen kommen kaum vor und widersprechen den Interessen von Planenden, Behörden und Hausverwaltungen – wurde etwas möglich, das sonst in aufwendigen Prozessen begleitet werden muss. Ein Fazit aus dem Fall ist also, dass ein möglicher Faktor für das Soziale – etwas das in Wien derzeit viel diskutiert wird – das Ungeplante in Kombination mit den Kompetenzen der künftigen Gruppe ist. Ein großer Widerspruch zu den behördlichen und sonstigen Rahmenbedingungen im Wohnbau. Für die Praxis heißt das: Undefinierte Flächen einzuplanen und Mittel für die Gestaltung durch BewohnerInnen zur Verfügung zu stellen, kann also als Strategie für die Besiedelung hilfreich sein. Abhängig davon wer in ein Wohnhaus einzieht, muss dieser Prozess mehr oder weniger begleitet werden und kann dazu beitragen funktionierende Nachbarschaften zu schaffen. Die qualitative, interpretative Forschung schafft hier die Entwicklung konkreter Handlungsstrategien für die praktische Umsetzung, um ein Ziel der Stadtentwicklung zu unterstützen.

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Kommentare (6)

  1. #1 MartinB
    September 27, 2012

    Danke, endlich mal jemand, der ganz konkret erklärt, wie man als Geisteswissenschaftler arbeitet, finde ich sehr interessant.

  2. #2 rolak
    September 27, 2012

    für Nicht-WienerInnen vielleicht gar nicht so einfach den Sinn exakt zu verstehen bzw. die mitschwingenden Bedeutungen in weiterer Folge zu interpretieren.

    Rheinländer. Verstehen ging, ob der exakte Sinn allerdings überhaupt außerhalb der sprechenden Person erfasst werden kann, wage ich zu bezweifeln. Selbst mir als Sprecher scheint es unmöglich, tatsächlich alle mitschwingenden Bedeutungen (und Einflüsse) selbst kurz nach dem Sagen zu repetieren. Das erfaßt noch gar nicht das Problem von (bei mir auch schon mal einigen am Stück) nichtkommunizierten Denk-Zwischenschritten, die für Andere zum Verständnis eben doch notwendig gewesen wären, was mir aber vorher nicht auffiel, weil der Gedankengang bei mir ja konsistent war.

    hehe, gerade wollte ich erwähnen, daß ich den anderen post hinter dem Querverweis wohl verpasst habe (aus der Formulierung als in der Vergangenheit geschrieben interpretiert) und mich auf die Suche begeben — nur um festzustellen, daß er im feed nach diesem steht, also formal jünger ist 😉

  3. #3 Andrea Schaffar
    September 27, 2012

    Habe beide Einträge heute online gestellt, der eine hätte ohne den anderen wenig Sinn gemacht. Hab zugegeben nicht drauf geachtet welcher als erstes online ging. 😉

    Und ja stimmt: Die Sache mit der Exaktheit und dem Erfassen ist immer relativ. Das ist die Krux beim Interpretieren. Sowas wie kollektiv geteilte regionale Färbungen, d.h. nur Leute aus einer Region verstehen was gemeint ist, sind da quasi ein Add-on.

  4. #4 Dr. Webbaer
    Erde
    September 27, 2012

    Beim interpretativen Forschen geht es von der Zielrichtung her immer um die Generierung von Theorie.

    Forschung bemüht sich um das Erstellen von Sichten.

    Dem Schreiber dieser Zeilen fällt, sozusagen ganz undefiniert, die Überbetonung des Sprachlichen auf … wenn es um die Stadtplanung geht.

    So ähnlich wie die IT keine sozialen Probleme lösen kann, sie kann nur Lösungen unterstützen, ist die Sprache ein Medium oder Instrument. Nichts wirklich Wichtiges.

    MFG
    Dr. Webbaer

    PS: Zur “Perfektion” haben es die sog. Poststrukturalisten gebracht.

  5. #5 Stefan W.
    September 28, 2012

    … von dem kleinen Detail mal abgesehen, dass IT soziale Probleme lösen kann.

    Z.B. das Telefon, die SMS, Foren, Wikipedia, usw.

    Der Satz von den sozialen Problemen die IT nicht lösen könne ist so unmittelbar einleuchtend, dass man rasch stutzig werden sollte.

    Das wäre ja etwa, als könne man mit Hygiene keine medizinischen Probleme lösen, oder mit Landwirtschaft keinem Hunger begegnen.

  6. #6 Andrea Schaffar
    September 30, 2012

    Forschung bemüht sich um das Erstellen von Sichten.

    Ich habe allerdings geschrieben “Beim interpretativen Forschen”, wie Sie ja auch korrekt zitieren. Und dann beschrieben was das meint. Worum es beim Forschen im Allgemeinen geht, ist mir berufsbedingt bekannt. 😉

    Dem Schreiber dieser Zeilen fällt, sozusagen ganz undefiniert, die Überbetonung des Sprachlichen auf … wenn es um die Stadtplanung geht.

    ??? Das wäre mir jetzt neu, dass in der Stadtplanung an sich das Sprachliche überbetont würde. Dass allerdings die Analyse von Diskussionen einer sprachlichen Ebene bedarf, liegt irgendwie auf der Hand.
    Und im übrigen kann ich das Argument, dass ein Medium nicht wichtiges wäre, nicht teilen. Sehe ich als grobe Unterschätzung eines Bereiches, der gern auch als vierte Gewalt im Staat bezeichnet wird.

    Was auch immer Ihnen die Poststrukturalisten angetan haben, dafür kann ich nix. 😉