Beim Durcharbeiten meines Materials merke ich gerade (wieder einmal), was das Fordernde an dieser Art der Auswertung ist: Es gibt schlicht keine Kochrezepte. Die Art und Weise zu arbeiten ergibt sich im Verlauf der Arbeit. Bei mir äußert sich das gerade darin, dass ich bemerkt habe ich werde Teil der „Procrasti nation“. 😉 Das Copyright geht an einen ÖGGO-Kollegen von mir, Jan @Poczynek, er schrieb vor zwei Tagen auf Facebook: „I am a proud citizien of the Procrasti nation“.

Prokrastinieren kann viele Formen annehmen, ich ertappe mich in den letzten Tagen immer wieder dabei Methodenbücher in die Hand zu nehmen oder auf youtube Videos anzuschauen, die ich eigentlich schon kenne. Und alles das passiert macht irgendwie Sinn, ist eine meiner Grundannahmen – eine Annahme übrigens, die sich ausgezeichnet mit dem methodischen Ansatz verträgt mit dem ich arbeite. Menschen machen Dinge, die für sie Sinn machen, es geht nur darum zu erkennen welchen. Durch die Rekonstruktion von Perspektiven können die darin eingelagerten Sinnkonstruktionen freigelegt werden.

Wo steckt also der Sinn dahinter, wenn ich beginne meine Methodenbücher zu durchforsten oder auf youtube Videos über Codieren oder Memoing anzusehen? Ich suche Orientierung und überprüfe ob ich meine Arbeitsweise valide finde. Ein grounded theory Projekt hat keinen exakten bzw. linearen Ablauf. Bei anderen methodischen Verfahren ist klar welcher Schritt auf welchen folgt und der Weg zu arbeiten ist exakt definiert. Ein Beispiel dafür wäre die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring. Deren Ablauf könnte ich sogar, würde mich jemand Mitten in der Nacht wecken, klar Schritt für Schritt aufzählen: Kurz und knapp ist das nach der Transkription, die Paraphrasierung, dann Generalisierung, die Selektion und das Streichen, die Bündelung (Kategorien entwickeln), d.h. eine formale, inhaltlich und bzw. oder typologische Strukturierung. Schön eins nach dem anderen. Das hat große Vorteile, da es übersichtlich, nachvollziehbar, relativ leicht erlernbar bzw. vermittelbar ist und somit viel Sicherheit und Komfort bietet. Und für viele Projekte ist das sinnvoll und zielführend. (Methoden sind Werkzeuge und imho ist es sinnlos diesbezüglich dogmatisch zu sein.) Nachteil ist allerdings, dass dem verwendeten Material nur sehr bedingt Genüge getan wird, nur Texte tatsächlich gut als Material verwendet werden können und die Art und Weise zu arbeiten stark reduktiv ist – es wird so viel raus gestrichen, dass am Ende nur mehr recht wenig – an Aussagekraft – übrig bleibt. Aber es ist effizient und hat den Ruf einfach zu sein, (auch) deshalb hat der Zugang im Laufe der letzten Jahre in meinem universitären Umfeld eine regelrechte Methodenkarriere hingelegt. Auch wenn ich des Öfteren zu hören bekomme, dass gewisse Schritte, z.B. die Paraphrasierung, eine unnötige Verkomplizierung darstellen. Aber das ist eine andere Geschichte. 😉

Warum mich das gerade beschäftigt? Ganz anders ist das bei der grounded theory. Für jedes Projekt wird, abhängig von der Struktur der Daten, von der Logik des Projekts und natürlich den forschungsleitenden Fragestellungen, eine eigene Arbeitsweise entwickelt. Die Fragestellung und das Erkenntnisinteresse leiten ebenso den Prozess, wie das Material und dessen Anforderungen. Ein Kochrezept gibt es nicht. Ziel ist es Perspektiven zu rekonstruieren, Denkweisen zu erfassen, Konzepte in den Köpfen oder Vorstellungen der Menschen zu extrahieren und verstehen zu lernen, wie Dinge zusammenhängen und funktionieren. Kochrezeptartige Forschung wäre dafür nur hinderlich. Ziel eines grounded theory Projektes ist ja nicht – hier wieder der Vergleich zu Mayring – eine Zusammenfassung und Strukturierung mit Erklärungen zu liefern, sondern die Entwicklung einer in Daten begründeten Theorie: Einer grounded theory.

Das Programm mit dem ich arbeite, atlas.ti, ist eine große Datenbank mit unendlich vielen Möglichkeiten damit zu arbeiten. Beim Aufsetzen eines neuen grounded theory Projektes fließt also viel Arbeit in die Gestaltung der eigenen Arbeitsweise, d.h. in den konkreten Forschungsprozeß. Das verleitet dazu wiederholt eine Schleife im Sinne des zirkulären Forschens zu machen. Nochmals, bzw. immer wieder, die methodischen Bücher in die Hand zu nehmen, die eigenen Theorieüberlegungen zu durchforsten, sich die Struktur der Daten vor Augen zu führen oder Videos von anderen WissenschafterInnen anzusehen. Insofern macht es dann doch Sinn was ich derzeit mache, auch wenn ich bei der Bezeichnung „Procrasti nation“ laut lachen musste und mich ertappt fühlte.

Kommentare (6)

  1. #1 Joseph Kuhn
    August 16, 2014

    Etwas assoziativ:

    Das Prokrastinieren mag früher eine Unsitte gewesen sein, in unseren rastlosen Zeiten heute ist es eher eine Tugend. In diesem Sinne: Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe ruhig auf morgen. Im Blogbeitrag ist allerdings vom “Prokastinieren” die Rede. Pro-Casting?

    Forschen “nach Kochrezept”: Gibt es das überhaupt irgendwo? Mir scheint, es war eine der bleibenden Einsichten Paul Feyerabends, dass es mit methodologischen Kochrezepten in Wirklichkeit nicht weit her ist und sich Forschungsmethoden bisher immer auch in der Auseinandersetzung mit dem Forschungs(gegen)stand verändert haben.

    Zur Grounded Theory: Sätze wie der, dass es hier um “die Entwicklung einer in Daten begründeten Theorie” geht, gehören ja sozusagen zum “liturgischen Repertoire” des Glaser/Strauss-Ansatzes. Wie wird das heute konkret verstanden, wie kommt konkret die Theorie zu den Daten bzw. wie emergiert aus “Daten” Theorie?

  2. #2 Andrea Schaffar
    August 16, 2014

    Tippfehler, durchgezogen vom ersten Mal bis zum letzten Mal falsch schreiben. Danke fürs aufmerksam machen – das Zitat meines Kollegen hatte das “r” die ganze Zeit richtig in sich. 😉

    Forschen nach Kochrezept gibts – leider – viel zu häufig. Insbesondere die Art und Weise wie sozialwissenschaftliche Forschung oft – imho auf Grund von zu wenig Wissen – unterrichtet wird. Feyerabend, mir während des Studiums auf der Wissenschaftstheorie begegnet, ist vielen unbekannt. Leider.

    Ich komm ja selbst aus einem Fach, das eine starke Methodendistanz hat. Da wird methodisches Wissen von vielen nicht als Know How angesehen, sondern als lästiger Teil, den man nun inzwischen (irgendwie) integrieren muss. Daher kommt auch – zurecht wie ich finde – der Ruf der Unwissenschaftlichkeit von vielen Sozial- und Geisteswissenschaften her. Dabei ist es in den Sozialwissenschaften ja genau das transparent machen des Wie, d.h. wie vorgegangen, gesampelt, ausgewertet etc. wird, was Wissenschaftlichkeit gewährleisten kann.

    Glaser/Strauss wurde in den letzten 20 Jahren stark weiterentwickelt. Gibt inzwischen unterschiedliche Ausrichtungen (Charmaz, Clarke). Aber das grundlegende Interpretieren ist im Kern noch so geblieben. Ist eine meiner Ideen an diesem Diss-Tagebuch, dass ich zeige wie die Theorie aus dem Interpretationsprozess entsteht. Werd morgen einen Post zu den Codes und Verknüpfungen machen, da sollte das erstmals greifbar werden.

  3. #3 Joseph Kuhn
    August 16, 2014

    “Forschen nach Kochrezept gibts – leider – viel zu häufig.”

    Ja, schon, manche “forschen” sogar noch unterhalb dieser Ebene. So war’s nicht gemeint, es ging mir um die methodologische Ebene, um die Möglichkeit, Forschungsmethoden normativ “gültig” wie ein Kochrezept zu fixieren und dann unabhängig vom Zuwachs an inhaltlichem Wissen für alle Zeiten unverändert beizubehalten. Das geht nicht.

  4. #4 Andrea Schaffar
    August 16, 2014

    Das seh ich auch so. Eh klar, sonst würd ich nicht in dem Bereich forschen und unterrichten. Methoden sind nur Werkzeuge – wie oben geschrieben – die je nach Forschungsfrage und -anforderungen passend eingesetzt werden sollten.

    Die methodologische Ebene ist für viele etwas Theoretisches und Abstraktes. Wobei eigentlich gerade das Wissen die Leut befähigt gscheite und sinnvolle Forschungsdesigns zu entwickeln. In meinen Vorlesungen ist deshalb auch immer Methodologie das Zentrale und erst in zweiter Linie das Handwerkszeug. Ist wie in jedem Fach. Wer die Grundlagen nicht kennt und versteht, kann mit den Werkzeugen nichts anfangen.

  5. #5 Nicole
    BRemen
    November 14, 2014

    Bist Du noch aktiv? Oder hast Du schon abgegeben?

    • #6 Andrea Schaffar
      November 25, 2015

      Ich bin noch aktiv, komm aber derzeit null zum Schreiben. Weder Diss noch hier im Blog – leider. Hab bei mir an der Uni 2 große Vorlesungen neu übernommen und in den letzten beiden Semestern unheimlich viel unterrichtet und nebenher an Forschungsprojekten gearbeitet. Jetzt langsam lichtet es sich wieder und ich hoff die Fäden wieder aufzunehmen.

      Trotzdem wars ein unheimlich spannendes Jahr: Neue qualitative Methodenvorlesung aufgesetzt und eine Einführungsvorlesung zur Medienpädagogik (eins meiner Forschungsgebiete) im Audimax übernommen und auch neu aufgesetzt. Blognotizen hab ich einen Haufen hier liegen. 😉