Die Medienwissenschaft beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit dem Phänomen der selektiven Wahrnehmung. Wir wählen Inhalte so aus, dass sie unsere Meinungen verstärken und bestätigen. Zu lernen von den eigenen Ansichten zu abstrahieren, dies zu einem begleitenden Prozess zu machen und damit Kritikfähigkeit zu entwickeln, ist nichts Selbstverständliches. Gelernt wird dies in jenem Teil des Sozialisationsprozesses, der sich Bildung nennt.
Was klingt durch diese Aussagen durch? Die – imho etwas naive – Erwartungshaltung neue Technologien würden das Leben verbessern, demokratischer gestalten und gleichmäßiger machen. Die – paternalistische – Haltung, dass Menschen erzogen werden müssten und damit zu etwas Besserem gemacht werden als sie aktuell sind, zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte.
Fazit: Soziale und kommunikative Filterblasen gab es immer schon, im realen noch viel stärker als im virtuellen Leben. Das Phänomen ist nicht neu, es wird nur im Diskurs via Social Media greifbarer. Im Virtuellen wird es möglich, die alltäglichen Filterblasen zu verlassen und sich zu konfrontieren. Viele Menschen tun das aber nicht. Warum sollten sie auch? Bzw. woher sollten sie wissen, dass dies Qualitäten hat? Das tun und wissen sie im ‚real life‘ meist auch nicht.
„So schlimm war es noch nie, die Umgangsformen sind so oarg!“
Beobachtbar sind Radikalisierungen in Kommentaren, Herabwürdigungen von anderen Diskutierenden, virtuelle Rüpeleien oder auch das Phänomen Hatespeech. Im medialen Diskurs wird dies als etwas Neues dargestellt und – oft – mit drohendem Zeigefinger gewarnt. Aber auch hier gilt: Das ist nicht neu. All das gab es immer schon. Nur waren diese Dinge nicht so sichtbar. Die Öffentlichkeiten haben sich geändert. Inzwischen hat jeder und jede ihre eigene Öffentlichkeit und kann sichtbar werden. Facebook, Twitter, Instagram und Co, also alle Plattformen in denen direkte Kommunikation möglich ist, schaffen diese Möglichkeiten. Das was Menschen früher am vielzitierten Stammtisch gepoltert haben, poltern sie heute virtuell. Und im Virtuellen treffen Milieus aufeinander, die sich früher im realen Leben nicht getroffen hätten. Um das in Wiener Vergleichen darzustellen: Die Gäste eines Vorstadtwirtshauses treffen nicht auf die Besucher eines innerstädtischen Kaffeehauses. Die BesucherInnen eines Megaplex kreuzen nicht die Wege jener mit einem Abo für die Oper oder Josefstadt. Im Virtuellen treffen Menschen in noch nicht verhandelten gesellschaftlichen Bereichen aufeinander. Im Alltag wissen Primarärztin und Bauarbeiter, Rechtsanwalt und Putzfrau wie sie miteinander umgehen, ihr gesellschaftlicher Umgang ist durch soziale Konventionen geregelt. Im Virtuellen stehen sich beide Seiten – vermeintlich 😉 – gleichberechtigt gegenüber, der kommunikative Umgang ist nicht geregelt und virtuelle Sammelbecken, wie Gruppen oder Pages, schaffen zudem kollektive Strukturen. Zusätzlich liegen die Tücken von Geschriebenem in der Exaktheit. Getipptes ist leichter misszuverstehen, schriftliche Diskussionen sind anfällig für Polarisierungen und unsere kollektiven Fähigkeiten diesbezüglich noch eher unterentwickelt.
Fazit: Neu sind nicht die Umgangsformen, neu ist die mediale, virtuelle Konfrontation. Gespräche und Gesprächsformen, die sonst im direkten Gespräch am Bier- oder Kaffeehaustisch geblieben wären, sind nun für alle nachlesbar und Menschen, die sich im „richtigen Leben“ nie treffen würden, begegnen sich nun virtuell.
Und nur der Vollständigkeit halber, weil ich das auch schon zu hören bekam:
„Früher wurde mehr auf Intellektuelle gehört!“
Ja. Ganz sicher. Bledsinn. Wo genau soll das gewesen sein? In meiner Kindheit und Jugend – ich stamme aus einem der Wiener Flächenbezirke in Transdanubien – war ‚Intellektuelle‘ ein Schimpfwort. 😉
Bisserl elaborierter: Aus einer bildungsbürgerlichen Perspektive mag das stimmen, aus anderen gesellschaftlichen Perspektiven nicht. Das Phänomen der ‚Lügenpresse‘ lässt sich aus sozialwissenschaftlicher Sicht auch milieuspezifisch erklären. JournalistInnen sind und sehen sich als Gatekeeper, sie treffen Entscheidungen darüber was berichtenswert ist und was nicht. Und sie gehören natürlich zu einem tendenziell bildungsaffinerem Milieu – auch wenn so einige JournalistInnen MilieuwechslerInnen sind, mein Institut, die Publizistik und Kommunikationswissenschaft, war und ist ein Sammelbecken dafür. Ein recht elitärer Gesellschaftsbereich, der Journalismus, entscheidet also darüber was und über wen berichtet wird. Dementsprechend wird und wurde ausgewählt. Und dementsprechende Inhalte landeten auch in den medialen Formaten. Social Media verändert diese Vermittlungsinstanzen, Journalismus funktioniert in vielen Gesellschaftsbereichen nicht mehr wie vor 20 Jahren. Die Wirkmächtigkeit und Funktionen verschieben sich und diesbezügliche Aushandlungsprozesse sind im Laufen. Die Skepsis von Milieus den anderen gegenüber bekommt so einen medialen Kanal, der vor Social Media nicht existent war.
Kommentare (89)