Shusaku erkannte die Bedeutung von Miai auf der ganz großen Skala in der Eröffungen. Dieses Konzept kannte man davor nur im engen Kampf um Leben und Tod einer Gruppe. Miai ist eine Situation, in der zwei Punkte auf dem Brett gleichwertig sind. Wenn ich A spiele, spielt der Gegner B. Wenn ich B spiele, spielt der Gegner A. Shusaku hat er kannt wie man diese Situationen in der Eröffnung provoziert und ausnutzt. Er wurde so gut darin, dass er praktisch kein Spiel mehr verloren hat, wenn er den ersten Zug der Eröffnung hatte (also die schwarzen Steine). Als er einmal gefragt wurde, ob er sein letztes Spiel gewonnen hat, sagte er nur “ich hatte die schwarzen Steine”.
Der Vorteil des Spielers mit den schwarzen Steinen wurde offensichtlich und in den Händen professioneller Spieler fast übermächtig. Und so kam es, nach gerade einmal fünf Jahrhundeten, schon wieder zu einer Regeländerung. Man führte das Komi ein. Der weiße Spieler wird, für den Nachteil nicht anfangen zu dürfen, mit einigen Punkten Vorsprung kompensiert. Vor 100 Jahren waren es noch 3 oder 4 Punkte, heute sind es 6 oder 7.
Zu dieser Zeit, im Jahr 1914, wurde im völlig verarmten China ein Junge geboren, der auf den Namen Wu Qingyuan hörte. Wenn man die Zeichen dafür auf japanisch ausgespricht, heißt er Go Seigen. Sein Vater hatte in Japan unter Honinbo Shuho gelernt und so gelangte Go Seigen, der großes Talent zeigte, schließlich nach Japan. Er starb erst letztes Jahr im November, mit 100 Jahren. Und so gilt ausgerechnet ein Chinese in Japan zusammen mit Shusaku und Dosaku als einer der drei besten Spieler aller Zeiten.
Als Außenseiter kümmerte er sich wenig um etablierte Züge. Denn auch Shusaku spielte in der Eröffnung auf keinen Fall auf die Sternpunkte auf 4-4 um eine Ecke in Anspruch zu nehmen. Wie alle Japaner beschränkte er sich auf 3-4 und 5-3. Es war wie ein blinder Fleck der Kultur.
1933 hatte der damalige Honinbo Shusai seinen 60. Geburtstag. Zu diesem Anlass sollte er gegen Go Seigen spielen, der damals 19 jährige hatte schon von sich reden gemacht. Aber was folgte, wurde bekannt als das Spiel des Jahrhunderts. Und das, obwohl es Go Seigen mit 2 Punkten Rückstand knapp verloren hat. Er eröffnete das Spiel auf 3-3, auf dem diagonal gegenüber liegenden 4-4 und auf dem Punkt in der Mitte (Tengen) 10-10.
Bei der Eröffnung auf Tengen zu spielen galt als absolute Unverschämtheit und die anderen beiden Züge zeigten auch nichts von dem Respekt, den ein Japaner gegenüber dem 60-jährigen Honinbo gezeigt hätte.
Die Bedenkzeit am Brett betrug für jeden Spieler 24 Stunden – damals durchaus üblich. Das Spiel konnte aber vom Gastgeber jederzeit unterbrochen und Tage später fortgesetzt werden. Honinbo Shusai nutzte dieses Recht bis zu äußersten aus. Das Spiel dauerte so drei Monate. In den Pausen zog sich der Honinbo immer wieder zurück um zusammen mit allen anderen Mitgliedern des Hauses Honinbo das Spiel zu analysieren. Man sprach relativ offen davon, dass Go Seigen nicht gegen den Honinbo, sondern gegen alle Spieler des Hauses zusammen spielte. Die Tatsache, dass Go Seigen Chinese war, machte es auch nicht leichter. Denn zu dieser Zeit hatte Japan die chinesische Mandschurei erobert und ein Puppenregime unter dem alten chinesischen Kaiser eingesetzt.
Der Sieg mit zwei Punkten kam am Ende unter diesen Umständen trotzdem einer Niederlage gleich. Wieder war es das durchbrechen der Traditionen, die das Spiel veränderten. Das tat Go Seigen zusammen mit seinem guten Freund und Spielgegner Kitani Minorou. Zusammen arbeiten sie neue Stategien aus, die experimentell, gewagt und manchmal fast dadaistisch waren. Sie ließen in manchen Spielen Ecken und Seiten außer acht und kämpften gleich um die Mitte. Während solche extremen Auswüchse nie einen dauerhaften Erfolg hatten, blieben dennoch viele neue Ideen aus dieser Zeit zurück. Vor allem Kitani war daran nicht unschuldig, er machte sich vor allem als Lehrer verdient, der über ein Dutzend äußerst erfolgreiche Schüler hatte.
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