Massive Kritik gibt es zurzeit am Hessischen Kultusministerium wegen der im Mai 2010 veröffentlichten Entwürfe für das neue Kerncurriculum im Fach „Geschichte” für die Grundschule, die Hauptschule, die Realschule sowie die Sekundarstufe 1 des Gymnasiums in Hessen. Die Pläne für die gymnasiale Oberstufe fehlen noch. Nach dem hessischen Geschichtslehrerverband hat sich mittlerweile sogar der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) eingeschaltet. Beide befürchten, dass durch die angestrebte „Kompetenzorientierung” des Unterrichts das historische Wissen auf der Strecke bleibt.
Die Entwürfe sind im Internet abrufbar unter
https://www.iq.hessen.de/irj/IQ_Internet?uid=44540e7a-7f32-7821-f012-f31e2389e481
Besonders als Gymnasiallehrer könnte man sich nun freuen, dass durch die Pläne und Ideen der Geschichts-Unterricht nachhaltig verbessert wird oder man gute Anregungen bekommt.
Im Vorwort des kritisierten Entwurfs heißt es dazu allgemein:
„Lehrpläne treffen aus der Fülle möglicher Gegenstandsbereiche der Fachdisziplin eine Auswahl, ordnen die Inhalte und geben dadurch die im Unterricht zu behandelnden Themen vor – in der Erwartung, dass möglichst viel von dem vermittelten Wissen von den Schülerinnen und Schülern verstanden und beherrscht wird.”
Diesen Ausführungen könnte ich ja noch zustimmen, wenn der Entwurf nicht gänzlich auf Unterrichtsinhalte und -themen verzichten würde. Denn in dem Plan geht es nicht etwa um eine sinnvolle Komprimierung der Stofffülle und einen gemeinsamen Inhaltskanon, sondern ausschließlich um die Gewinnung von „Kompetenzen”, die…
„Demgegenüber kehren Bildungsstandards gleichsam die Perspektive um. Im Mittelpunkt stehen nicht mehr die einzelnen Inhalte der Fächer, sondern das, was alle Kinder und Jugendlichen am Ende ihrer schulischen Laufbahn (oder auch nach wichtigen Abschnitten ihres Bildungsweges) wissen und können sollen. Dies führt zur Beschreibung von Kompetenzen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt von allen Lernenden erwartet werden.
Kompetenzen werden dabei verstanden als Verbindung von Wissen und Können – Wissen soll transferierbar und in Anwendungssituationen nutzbar sein. Damit richtet sich der Blick nicht nur auf Wissenselemente, die sich zu einem Gesamtverständnis verknüpfen sollen, sondern auch auf weitere Bedingungen erfolgreicher Bewältigung kognitiver Anforderungen. Hierzu zählen Strategien zum Erwerb von Wissen und dessen Nutzung und Anwendung sowie personale und soziale Dispositionen, die erforderlich sind, um herausfordernde Aufgaben bewältigen zu können. Für die Unterrichtsplanung stellt sich damit die Aufgabe, Lerngelegenheiten zu schaffen, in denen alle Lernenden gut organisiertes und vernetztes Wissen aufbauen und nutzen können.”
Interessant! Aber was soll nun in Hessen unterrichtet werden, welche Themen sind wichtig? Ein wenig „Steinzeit” am Lagerfeuer in der Schulküche, um das soziale Miteinander zu erleben, aber ohne Nennung des „Inhaltes”, warum die Menschen in der Jungsteinzeit sesshaft wurden? Danach ein wenig „Ägypten” und „Ackerbau am Nil”, um gemeinsam zu erfahren, dass Lebensmittel wichtig sind? Griechen und Römer könnten auch nicht schaden! Spätestens bei zeitgeschichtlichen Themen wie dem „Nationalsozialismus” oder der „DDR/SED-Diktatur” wird deutlich, dass eine reine Kompetenzorientierung des Geschichtsunterrichts problematisch und wie der VHD anmerkt ebenso unhistorisch ist.
An diesen „Beispielen” wird für mich deshalb deutlich, dass es in einem Bundesland immer gemeinsame inhaltliche Vorgaben in Form eines Kanons geben muss, die dann durch besondere Schwerpunkte an den Schulen durch die Fachkonferenzen festgelegt werden. Dies ist besonders für Projektarbeit und -tage sowie Exkursionen oder Arbeitsgemeinschaften und Kurse zu einem ausgewählten Thema wie den Seminarkursen in der Oberstufe zu ausgewählten Themen- und Fragestellungen sinnvoll. Doch die Entwürfe sehen dieses normale Vorgehen der Unterrichtsplanung und -planung gar nicht vor. Im Rahmen der selbstständigen Schulen sollen die Lehrkräfte gemeinsam für die jeweilige Schule anhand von Inhaltsfeldern die historischen Themen festlegen, die unterrichtet werden, um die geforderten Kompetenzen zu erreichen:
„Zu den fachspezifischen Bildungsstandards gehören Inhaltsfelder, in denen wesentliche inhaltliche Zusammenhänge dargestellt sind, die sich an den grundlegenden inhaltlichen Konzepten des Faches ausrichten. Der verbindliche Kernbestand eines Faches wird somit durch den Zusammenhang der fachlichen und überfachlichen Kompetenzen mit den jeweiligen Inhaltsfeldern abgebildet.
Im Folgenden wird diese Struktur genauer erläutert.”
Kompetenzen können meiner Ansicht nach durch den Einsatz von Methoden geschult werden. Doch an erster Stelle der historischen Arbeit an der Schule stehen die inhaltlichen Themen, aus denen man den Unterricht entwickelt. Methoden und Kompetenzen sind dabei genauso sekundär wie die im Entwurf erwähnten Inhaltsfelder „Alltagskulturen”, „Herrschaft”, „Wirtschaft”, „Eigenes und Fremdes” und „Bewältigung und Nutzung von Räumen”, die sehr oberflächlich behandelt werden und zudem in ihrer Gewichtung fragwürdig sind. Denn ohne inhaltliche Vorgaben können auch diese gar nicht entwickelt werden! Dies wird auch am geforderten „Problemverständnis” und der Fähigkeit zum „Transfer” deutlich, der den jungen Menschen insbesondere in den ersten sechs Jahren am Gymnasium beigebracht werden soll. Der Verzicht „auf einen Katalog von Unterrichtsthemen” (Entwurf Sekundarstufe 1, S. 3) offenbart dabei, wie verzichtbar der Entwurf selbst ist, der in seiner Sprache und Ausdrucksweise im erziehungswissenschaftlichen Duktus Einfaches schwierig und unverständlich ausdrückt, was folgende Textpassage (S. 4) im „Blabla”-Stil zeigt:
„Kompetenzen werden individuell erworben – nicht gelehrt. Kompetenzen werden ausgehend von einem festgelegten Ziel kumulativ von der ersten bis zur zehnten Jahrgangsstufe aufgebaut. Übergänge werden so im Sinne konsistenter Bildungsbemühungen harmonisiert. Ein kumulativer Aufbau von Kompetenzen richtet sich an den Voraussetzungen der Lernenden aus, behält das zu erreichende Lernergebnis im Blick und berücksichtigt Entwicklungsstufen. Bildungsprozesse sind immer auch soziale Prozesse. Sie erfordern – im Sinne von Ko-Konstruktion und situiertem Lernen – die Ermöglichung von Diskurs und gemeinsamer Wissensaneignung sowie entsprechend gestalteter Lernumgebungen. Vor diesem Hintergrund erhalten Lernbegleitung, Diagnose und Förderung, Individualisierung und Differenzierung, Beurteilung und Bewertung sowie alternative Formen der Leistungsdokumentation und Reflexion einen besonderen Stellenwert.”
Was bringen diese Ausführungen nun für den Geschichtsunterricht, zumal in der Folge auf Seite 5 die vier angestrebten Kompetenzbereiche aufgelistet werden?
„(1) Personale Kompetenz, (2) Soziale Kompetenz, (3) Lern- und Arbeitskompetenz sowie (4) Sprachkompetenz.”
Überfachlich soll damit erreicht werden (S. 8):
„- Die Förderung einer psychisch gesunden und selbstbewussten Schülerschaft;
– die Herausbildung von Fähigkeiten einer leistungsbereiten jungen Generation;
– die Entwicklung einer positiven Haltung gegenüber Lernen und die effektive Nutzung elaborierter Lernstrategien;
– die Entwicklung individueller und sozialer Verantwortung (Toleranz, Beziehungsfähigkeit, Kooperationsfähigkeit, das Lösen sozialer Probleme u. a.);
– Prävention und Kompensation von Devianz und Gewalt;
– Förderung eines demokratischen Verständnisses und demokratischer Grundwerte.”
Der intellektuelle Höhepunkt des Entwurfs ist das 3. Kapitel „Kompetenzorientierung und Beitrag des Faches zur Bildung” (S. 16-19). In diesem werden die oberflächlichen Ausführungen zum Geschichtsbewusstsein fortgesetzt, bevor den Schulen auf Seite 18 in einer „kann-Bestimmung” nahegelegt wird, im Rahmen der inhaltlichen Selbststrukturierung und Versorgung mit Fachlehrern vor Ort die Fächer Geschichte, Erdkunde sowie Politik und Wirtschaft als Lernbereich „Gesellschaftskunde” zusammenzufassen.
„Dabei ist darauf zu achten, dass der Anteil der jeweiligen Fächer angemessen berücksichtigt wird.” (S. 18)
Es folgt im Konzept zudem noch eine Abbildung, in der der neue Lernbereich „Gesellschaftskunde” visuell erklärt und unterstützt wird:
Interdisziplinarität ist auch in der Schule durchaus sinnvoll. Doch wie sollen niveauvolle „interdisziplinäre Lernvorhaben” umgesetzt werden, wenn die Inhalte der jeweiligen Fächer unklar und beliebig sind oder es die gesellschaftswissenschaftlichen Fächer als solche gar nicht mehr gibt? Auf Seite 21 ist des Weiteren ein Sammelsurium von inhaltlichen geschichtsdidaktischen Konzepten zu finden. Die Autoren des Entwurfs erwähnen dabei zusammenhanglos „einfach mal” drei Geschichtsdidaktiker/Didaktiker wie Gautschi, v. Borries und Pandel, um ihre Überlegungen wissenschaftlich zu unterlegen und anzumerken, dass die Themenauswahl des Unterrichts immer von vom jeweiligen geschichtsdidaktischen Zugriff abhängig sei. Es folgen auf den Seiten 25-30 weitere Ausführungen und Konkretisierungen zu den eingeforderten Inhaltsfeldern, die durchaus interessant und diskussionswürdig sind, aber ohne gemeinsame Inhaltsstandards im Fach Geschichte nicht funktionieren.
Mein Fazit: Entwurf in den Papierkorb oder komplett überarbeiten!
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