Das verschwundene Neckargemünder Kurhaus in der heutigen Weststadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Regionalgeschichte kann sehr spannend sein: Auf der Internetplattform „Ebay” konnte ich vor kurzem ein interessantes Fundstück zur Geschichte meiner Heimatstadt Neckargemünd ersteigern. Dabei handelt es sich um ein etwa 15 x 21 Zentimeter großes und 22-seitiges Werbe-Prospektbuch, auf dessen Vorderseite in goldenen Jugendstil-Buchstaben und Verzierungen „DR RICHARD FISCHER’s Kurhaus für Nerven- und Gemüthskranke Neckargemünd” steht. Die einzelnen Seiten sind mit einem Bändchen verknotet.
Entstehungszeit zwischen 1897 und 1907
Die Entstehungszeit des nicht mit einer Jahreszahl datierten Prospektes mit zwölf Abbildungen schätzte ich zuerst zwischen 1900 und 1918 (eher vor dem Ersten Weltkrieg), da auf einem Bild die „Equipagen- und Wagenremise” (Kutschenausstattung) der Einrichtung mit Pferden zu sehen ist. Außerdem thronen in der Abbildung des Speisesaals des Kurhauses über dem großen Esstisch zwei Büsten von Großherzog Friedrich I. (1826-1907) und seiner Gemahlin Großherzogin Luise (Prinzessin Luise von Preußen, 1838-1923), so dass das Prospekt wegen der Nennung des Kurhausneubaus und einer sehr altertümlichen Rechtschreibung eher zwischen 1897 und 1907 gedruckt wurde. Für die Datierung spricht auch der kleine Vermerk auf Seite 18, dass das Prospekt bei der „Kgl.Univers.-Druck,v.H.Stürtz, Würzbg.” gedruckt sei.
Optimales Klima für Erholung von Nervenleidenden
In dem Prospekt wird vor allem die Lage Neckargemünds als „Bahnknotenpunkt” hervorgehoben. Als Haltepunkt aller durchgehenden Züge der Linie Berlin-Basel sei die kleine Stadt optimal erreichbar und weise durch seine winterliche Milde und sommerliche Frische sowie durch den Neckar ein optimales Klima auf. „Das im Jahr 1897 vom Besitzer neu erbaute, staatliche concessionierte Kurhaus in Neckargemünd liegt etwa 10 Minuten von der Stadt entfernt, nahe dem von dunklen Gehölz umrahmten Kümmelbacher Hof, frei auf dem sanften Abhang der linken Thalseite”, heißt es in dem Prospekt. Das Kurhaus diente nach weiteren Informationen des Heftes der Heilung und Pflege von Nervenleidenden und Gemütskranken. Im Mittelbau waren die Büros für die Verwaltung und den Wirtschaftsbetrieb sowie die Zentralküche untergebracht. Im Erdgeschoss gab es einen „vornehm ausgestatteten großen Speisesaal, Musik- und Billardzimmer, Sprechzimmer der Ärzte und einen Warteraum.” In der ersten Etage befand sich „die Wohnung des dirigierenden Arztes und in der zweiten elegante Krankenzimmer für leichtkranke nervöse Damen.”
46800 Quadratmeter großes Areal
In den Seitenflügeln gab es drei „für Herren und Damen” vollständig getrennte Krankenabteilungen mit je sieben Zimmern. Zur Gewährleistung einer individuellen Behandlung war die Aufnahme limitiert und lässt darauf schließen, dass sich das Kurhaus in erster Linie auf ein zahlungskräftiges Klientel eingerichtet hatte. Besonders hervorgehoben wurde zudem die „ozonhaltige Luft” Neckargemünds, die zu den Zimmern von dem nahen Laub- und Nadelwald „herüberweht” sowie die elektrische Beleuchtung, „Central-Dampfheizung”, „telephonische Einrichtung für den inneren und äusseren Verkehr”, sowie die Kalt- und Warmwasserleitung. Das gesamte Areal der Einrichtung mit Parkelementen mit „Croquet- und Lawntennisplatz” umfasste 13 Morgen, was im Großherzogtum Baden etwa 46800 Quadratmetern entsprach. Abseits lagen noch zwei weitere Gebäude mit Stallungen, Wagenremise, elektrisch betriebener Wasch- und Bügelanstalt und die „Räumlichkeiten für die Dampfkessel und Centrale für elektrische Beleuchtung, während der kleinere villenartige Bau Angestellten zur Wohnung dient.”
Mindestens 300 Mark für monatliche Pension
Interessant sind auch die ebenfalls abgedruckten „Aufnahme-Bedingungen”, die vom leitenden Arzt und Besitzer Dr. Richard Fischer unterschrieben wurden, der unter der Nummer 314 im Telephon-Amt Heidelberg erreichbar war. Für die Aufnahme in das Neckargemünder Kurhaus war ein „hausärztliches Zeugnis” notwendig. Die monatliche „Pension” betrug je nach Größe und Ausstattung des Zimmers mindestens 300 Mark, eine Ermäßigung auf 250 Mark war nur in besonderen Fällen möglich, die nicht näher spezifiziert werden. Eine Umrechnung in heutige Kaufkraft ist schwierig. Nach verschiedenen Umrechnungshinweisen – unter anderem des Statistischen Bundesamtes – kann der Faktor 5 bis 10 angesetzt werden, so dass als Vergleichswert ein Mindestbetrag zwischen 1500 und eher in Richtung von 3000 Euro herauskommt. „Der Pensionspreis umfasst ein eigenes Zimmer mit Heizung und Beleuchtung, voller Beköstigung (bestehend in erstem und zweitem Frühstück, Mittagessen mit Suppe, zwei Gängen und Dessert, Nachmittagskaffee und Abendessen), Bedienung durch das gemeinschaftliche Personal, ärztliche Behandlung und einfache Bäder.” Weitergehende Wünsche wurden extra berechnet, genauso wie die „chirurgische und gynäkologische Behandlung, sowie Anwendung von Massage und Electricität”. Kleidung und Leibwäsche mussten selbst mitgebracht und mit dem ganzen Namen des Patienten gekennzeichnet werden.
Vom Mädchenpensionat bis zum Müttererholungsheim
Über das in Neckargemünd nach dem Ersten Weltkrieg als „Schloss Brugghalden” in der Schützenhausstraße (Weststadt) bekannte Areal war bisher wenig zu erfahren. Auf der Website des Reifensteiner Verbandes e.V. und seiner ehemaligen Schülerinnen, der bis 1990 einer der größten privaten und bedeutendsten Schulträger von Mädchen- und Frauenbildungsstätten in Deutschland war, kaufte der Architekt Brugger 1919 das Anwesen. In „Brugghalden” wurde nun ein Mädchenpensionat eingerichtet, welches zwischen 1921 und 1924 dem Reifensteiner Verband körperschaftlich angeschlossen war. Schon 1927 gingen Gebäude und Areal dann an den Verein für badische Taubstumme e.V. in Heidelberg über, um eine Berufsschule für Hörgeschädigte einzurichten. In der nationalsozialistischen Zeit wurde ab 1933 die Einrichtung als Müttererholungsheim genutzt.
Wechselvolle Geschichte bis 1948
Nach Mitteilung des Zeitzeugen und ehemaligen Neckargemünder Ratsschreibers Peter Karolus residierten nach Kriegsende 1945 auf dem Gelände, wo heute die Gebäude der „Staatlichen Gehörlosenschule” stehen, zahlreiche amerikanische Generäle und hochrangige Offiziere. In den Kellern unterhielt die US-Militärpolizei zeitweise ein Gefängnis, in das vor allem Einheimische kamen, wenn sie Widerstand gegen die Zwangsunterbringung von Heimatvertriebenen in ihren Wohnungen und Häusern leisteten. Für das Wohl der Bevölkerung waren seit 1946 auch 80 ehemalige Nationalsozialisten als Strafgefangene der Amerikaner im Neckargemünder Stadtwald unter Aufsicht der Hilfspolizei, bestehend aus 19 früher arbeitslosen Schiffern, im Einsatz. Die Frondienst-Leistenden versorgten die Bevölkerung mit Brennholz. Jeden Tag kommandierte die Stadtverwaltung außerdem zwölf Frauen, die Mitglied der NS-Frauenschaft gewesen waren, zu den Amerikanern in das „Schloss Brugghalden” vor allem für Putzdienste ab. Ab 1948 wurde das Haus wieder dem Taubstummenverein übergeben und als Außenstelle der Staatlichen Gehörlosenschule Heidelberg genutzt. 1988 wurde das „Schloss Brugghalden” abgerissen und durch einen Neubau der Gehörlosenschule ersetzt.(Repros: Jung)
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