Von 1945 bis 1959 lebte der frühere SS-Standartenführer Karl Jäger unerkannt in Wiesenbach und auf dem „Kümmelbacher Hof” bei Neckargemünd. In Litauen wurden 1941 unter seinem Kommando 137346 Juden ermordet. Ein Buch des Historikers Wolfram Wette widmet sich erstmals dem „Mörder der litauischen Juden”
Interview zu NS-Massenmörder Karl Jäger mit Prof. Dr. Wolfram Wette (Zeittaucher vom 22.4.2011)
Mitte April 2011 ist im Frankfurter Fischer-Verlag ein Buch über den im südbadischen Waldkirch aufgewachsenen SS-Verbrecher Karl Jäger (1888-1959), welches vor allem rund um Heidelberg für großes Aufsehen und Gesprächsstoff sorgen dürfte. Auf knapp 300 Seiten beschreibt der Freiburger Historiker Wolfram Wette (* 1940) mit vielen Hintergrundinformationen nach jahrelangen Recherchen erstmals die Lebensgeschichte eines der schlimmsten Holocaust-Täter überhaupt.
In einem erst 1963 aus sowjetischen Archiven durch das Moskauer Außenministerium freigegebenen Bericht vom 1. Dezember 1941 schilderte Jäger in prahlerischer Weise ausführlich seinen Vorgesetzten, wie es unter seiner Führung „gelingen” konnte, Litauen nach der deutschen Besetzung 1941 innerhalb weniger Monate „judenfrei” zu machen. Vor allem in Massenerschießungen wurden 137346 Juden ermordet. Der neunseitige, im Bürokratendeutsch verfasste Bericht ist eine der fürchterlichsten Täterquellen und ein Schlüsseldokument der Holocaust-Forschung, das im Buch als Reproduktion abgedruckt ist. In der bestialischen Schreibmaschinen-Chronik wird detailliert geschildert, wann und wo wie viele Menschen erschossen und erschlagen wurden. Über das Leben Jägers, der von manchen Historikern als „einer der effizientesten Massenmörder der neueren Geschichte” angesehen wird, war besonders in Bezug auf die Nachkriegszeit und seine Verbindungen in den Odenwald/Kraichgau und das Neckartal bisher wenig bekannt. Diese Lücke kann das Buch teilweise schließen.
Im Juli 1945 tauchte Karl Jäger in Wiesenbach (Landkreis Heidelberg) auf. In dem noch kleinen Dorf, das ab 1946 Hunderte von Heimatvertriebenen aufnehmen sollte und plötzlich doppelt so viele Einwohner hatte, arbeitete er sechs Jahre lang bei einem Mühlenbesitzer als Landarbeiter. Bekannt ist bisher nur, dass er knapp zehn Monate später im Wiesenbacher Rathaus einen Meldebogen ausfüllte, der aufgrund „des Gesetzes zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus” vom 5. März 1946 verpflichtend geworden war. Als Beruf gab er „Kaufmann” an, unterstrich „verheiratet” bei Familienstand und meldete sich unter einer Adresse im „Postbuckel” (Poststraße), die mitten im Ort lag, was darauf schließen lässt, dass der damals 58-Jährige vielen Wiesenbachern zumindest vom Sehen her bekannt war. Als gelernter Orgelbauer und Musiker könnte er hier unter Umständen auch musikalisch tätig gewesen sein.
Auf dem Meldeschein verzeichnete er seinen korrekten Vor- und Nachnamen, das richtige Geburtsdatum und den Geburtsort Schaffhausen. Zwischen 1933 und 1945 habe er in Reichenberg im Sudentenland gewohnt, verschwieg aber, dass er dort in den letzten zwei Kriegsjahren Polizeipräsident war und zahlreiche Einsätze für die SS in Deutschland, den Niederlanden und Litauen absolvierte. In einem vorgeschriebenen Fragebogen gab er zwar regelmäßige Einkünfte und Spenden für die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) an. Jedoch verschwieg er jegliche Betätigung in der NSDAP, der SS, Waffen-SS oder weiteren NS-Organisationen.
Mit dieser Falschmeldung konnte er sich bis 1958 allen Verfolgungen durch die Ermittlungsbehörden entziehen. Die Gemeinde Wiesenbach stellte keine weiteren Nachforschungen an. Daher musste er nach der Recherche von Buchautor Wette ebenso kein Entnazifizierungsverfahren durchlaufen und wurde als „Nichtbelasteter” eingestuft, was ihm sogar auf einer amtlichen Postkarte attestiert wurde. Mit seiner zweiten Frau Lotte (Heirat 1940) war er zu Kriegsende mit einem Kind noch von Reichenberg zuerst nach Tecklenburg in Westfalen geflohen, tauchte aber danach unter und nahm nie wieder Kontakt mit ihr auf, so dass sich Lotte Jäger hilfesuchend an den Suchdienst des Roten Kreuzes wandte, zumal sie finanziell nicht versorgt war. 1951 ließ sie sich auf Antrag scheiden und musste sich 1960 aus der Arbeiterrentenversicherung ihres Ex-Mannes eine Rente erstreiten.
1948 wurde Jäger von amerikanischen Ermittlungsbehörden zur Festnahme wegen Mordes ausgeschrieben. Die deutschen Ermittlungsbehörden suchten jedoch nicht intensiv nach ihm. Seit 1951 war er wieder als Landarbeiter auf den „Kümmelbacher Hof” bei Neckargemünd gewechselt, der damals noch zur Heidelberger Gemarkung gehörte und als Kurhotel mit angeschlossenem Café, später als Ausbildungsstätte der Kaufhof AG, fungierte. Da sich in der Region und besonders rund um Wiesenbach und Neckargemünd viele sudentendeutsche Heimatvertriebene nach der Flucht und durch Zwangszuweisung niedergelassen hatten, war es durchaus möglich, durch Zufall erkannt zu werden, was eine Hypothese für den Wechsel der Arbeitsstädte sein könnte.
Historiker Wolfram Wette geht allerdings davon aus, dass Karl Jäger seine SS-Vergangenheit auf dem Kümmelbacher Hof nicht komplett verheimlichen konnte und zumindest die Verwalterin des Anwesens wusste, dass er bei der SS und Kommandeur der Sicherheitspolizei im Osten gewesen war, und in der Folge schwieg. Nach seinen eigenen Aussagen infolge von Vernehmungen nach seiner Verhaftung 1959 unterhielt Jäger nach dem Krieg keinerlei Verbindungen zu ehemaligen „Kameraden”. Gegenüber einem Vernehmungsbeamten der Kriminalpolizei erklärte er damals: „Mit meinem früheren Leben schloss ich ab und habe auch mit meinen Familienangehörigen lange Zeit keine Verbindungen mehr unterhalten.” Er habe wenig verdient, ein einsames Leben geführt und selten in die Zeitung geschaut. Er habe sich immer „ordnungsgemäß polizeilich gemeldet”, war eine Feststellung, auf die er besonderen Wert legte.
1956 hatte das Bundeskriminalamt in Wiesbaden nach Vorermittlungen damit begonnen, doch noch nach Jäger zu suchen. Recherchen in seinen früheren Wohnorten Bonn, Düsseldorf, Münster, Freiburg, Waldkirch und Ravensburg führten zunächst jedoch zu keinem Erfolg, genauso wie die Veröffentlichung eines alten Lichtbildes in der Uniform eines SS-Sturmbannführers in einer BKA-Suchmeldung. Jäger schien wie vom Erdboden verschluckt oder tot zu sein – bis am 1. Dezember 1958 die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg ihre Arbeit aufnahm. Diese neue Einrichtung kümmerte sich in der Folgejahren um bis dahin unbekannte und gerichtlich nicht verfolgte nationalsozialistische Verbrechen und deren Aufklärung. Dabei ging es auch darum, Vorermittlungen gegen NS-Täter gerichtsverwertend vorzubereiten und deren Aufenthalt zu klären. Das erste Vorermittlungsverfahren galt dem Beschuldigten Karl Jäger, dessen Name während des Ulmer Einsatzgruppenprozesses 1958 als erstem großen NS-Prozess aufgetaucht war.
Ins südbadische Waldkirch, den Heimatort Jägers, reiste deshalb ein Sonderermittler, um sich vor Ort diskret über den Gesuchten zu erkundigen. Zufällig hörte er, dass Jäger noch am Leben sei und sich in Heidelberg aufhalte, wo auch ein Verwandter von ihm wohne. Die weiteren in aller Stille durchgeführten Recherchen ergaben, dass der NS-Verbrecher unter der Heidelberger Adresse „Kümmelbacherhof, Schlierbacher Landstraße 214″ polizeilich gemeldet war. Am 10. April 1959 wurde der Gesuchte dann verhaftet, zuerst in Heidelberg in Untersuchungshaft wegen Mordverdachts genommen und von Mitarbeitern des Landeskriminalamts vernommen. Dabei bestritt Jäger nicht, dass er von 1941 bis 1943 NS-Standartenführer, Kommandeur des Einsatzkommandos 3 und Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) für den Generalbezirk Litauen war. Er bestritt jedoch komplett, in irgendeiner Weise an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen zu sein. Die Befehle dazu seien „von oben” gekommen. Er selbst habe keine Anordnungen gegeben.
„Ich musste gehorchen, denn es war Krieg”, behauptete er in einer fürchterlichen Relativierung. Konsequent leugnete er auch bei seiner Verlegung auf den Hohenasperg bei Ludwigsburg seine persönliche Mittäterschaft und hatte bei den ihm vorgeworfenen Verbrechen immer wieder Erinnerungslücken und fühle sich als „Mensch mit höherer Pflichtauffassung” für „nicht schuldig”, zumal er an den Leichenbergen der umgebrachten Juden selbst gelitten habe. Dem zu erwartenden Gerichtsverfahren entzog sich der 73-Jährige dann in der Nacht vom 21. auf den 22. Juni 1959 durch Selbstmord, indem er sich in seiner Zelle mit einem Stromkabel erhängte.
Die jüdische Gemeinde Litauens ist heute auf 4000 Menschen geschrumpft – von ehemals 240000 im Jahr 1939. Den Opfern Jägers – vom Säugling bis zum Greis – gilt es still zu Gedenken.
Infokasten
Karl Jäger war ein Direkttäter vor Ort. Als SS-Standartenführer meldete er am 1. Dezember 1941 die Exekution von 137346 litauischen Juden. Das Land sei jetzt „judenfrei”. Der erst in den 1960er-Jahren durch die Sowjetunion veröffentlichte „Jäger-Bericht” wurde später zu einem Schlüsseldokument der Holocaust-Forschung. Wer war dieser Polizeioffizier aus dem zweiten Glied? Wie wurde aus dem 1888 geborenen Musiker und Orgelbauer, der früh der NSDAP beitrat, ein Massenmörder? Bis zu seiner Verhaftung 1959 lebte er unbehelligt in Wiesenbach und auf dem „Kümmelbacher Hof” zwischen Neckargemünd und Heidelberg. 1959 verübte nach seiner Verhaftung Selbstmord im Zuchthaus Hohenasperg bei Ludwigsburg. (Foto: Fischer Verlag)
Wette, Wolfram: Karl Jäger: Mörder der litauischen Juden. Mit einem Vorwort von Ralph Giordano, Fischer-Verlag, Frankfurt 2011, 320 Seiten, ISBN 978-3-596-19064-5, 9,99 €.
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