i-9b2a73d0e31e811d36ef8ae2395fd7b4-Grenzfall-thumb-200x282-32243.jpgComputer machen dumm. Jugendliche sind ungebildet. Die Menschen haben keine Ahnung über Geschichte. In diesen Vorurteils-Kontext passt das gerade erschienene Buch „Digitale Demenz: Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen” von Manfred Spitzer. Niemand bestreitet, dass für die intellektuelle Entwicklung eines Grundschulkindes eine Playstation als Geburtstagsgeschenk bedingt hilfreich ist. Nun gibt es auch noch verstärkt einfach verständliche Geschichtscomics zur Zeitgeschichte, die wie die Graphic Novell „Grenzfall” Schülern die DDR-Geschichte näher bringen sollen. Ist ein solches Angebot sinnvoll und didaktisch wertvoll? Ja!


Auf knapp 100 Seiten wird die Geschichte des 17-jährigen Schülers Peter Grimm erzählt. Dieser rebelliert innerlich gegen das SED-Regime und kommt 1982 infolge seiner Teilnahme an der Beerdigung von Robert Havemann mit der diskussionsfreudigen und unangepassten Intellektuellen-Community der Bürgerrechtler in Verbindung. Diese übt einen großen Reiz auf ihn aus, so dass er rasch selbst zu einem „Mitglied” dieser Bewegung wird. Ein Engagement in der DDR-Friedensbewegung beginnt. Menschenrechte, Umweltzerstörung und der alltägliche Widerstand gegen die DDR im Kleinen sind vorherrschende Themen, die in Sprechblasen immer wieder eingeordnet und didaktisch reduziert werden, so dass es auch bisher Ahnungslose verstehen können.

Die Geschichte wird so für die Schüler herunter gebrochen und durch den Protagonisten Peter erlebbar gemacht. Dieser will sein Recht auf Meinungsfreiheit einfordern und bekommt an seiner Schule massive Probleme mit staatskonformen Schülern, die ihn per Antrag aus der FDJ und dem Klassenverband ausschließen wollen, damit er als aufmüpfiger Freigeist kein Abitur machen kann. Doch der Ausschluss verfehlt die nötige Zwei-Drittel-Mehrheit, weshalb Peter nach einem „missglückten” Anwerbeversuch des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) von der Schule geworfen wird und Hausverbot bekommt. Zahn Tage vor der Abiturprüfung.

Er verdingt sich in der Folge als Büromitarbeiter in der Materialbeschaffung einer Firma, wo er viel Zeit zum Lesen hat. Zeitgleich mit der folgenden Intensivierung seiner Arbeit in der heute wenig professionell und zum Teil ziellos wirkenden Oppositionsbewegung gerät Peter Grimm immer mehr in die Fänge der Stasi. Denn zusammen mit einigen Mitstreitern hat er die Zeitschrift „Grenzfall” gegründet, die in einer Auflage von 50 Exemplaren heimlich gedruckt wird und sich kritisch mit dem Leben im Sozialismus auseinandersetzt. Darauf steht, wenn das MfS es nachweisen kann, Gefängnis. Unglaubliche Kräfte werden in der Folge von der „DDR-Gedankenpolizei” eingesetzt, um auszukundschaften, wer hinter dem „Grenzfall” steckt. Das Problem ist dabei nicht die Auflage, sondern dass die an eine Schülerzeitung erinnernde Publikation nach dem Lesen weitergegeben wird und viele Menschen in der gesamten DDR darüber sprechen, da Missstände offen angesprochen werden.

Am 24. November 1987 kommt es dann zur Machtprobe. Mitarbeiter der Stasi stürmen die im Keller der Ost-Berliner Zionskirchengemeinde befindlichen Räume der Umweltbibliothek und verhaften kurzfristig einige der dort Angetroffenen. Nach einer Warnung war Peter stattdessen den gesamten Abend mit seinen Mitstreitern in einer Kneipe gewesen und hatte nicht im Heizungskeller neben der Bibliothek auf Kirchengelände die neueste, meist monatlich erscheinende Ausgabe des Grenzfalls gedruckt. Das rigide Vorgehen der Stasi wird für die DDR und die SED-Führung zu einem PR-Desaster. Am nächsten Tag berichten zahlreiche West-Medien, die auf verschiedenen Informationskanälen über die Vorfälle Kenntnis erlangt hatten, ausführlich.

Damit wissen Millionen von DDR-Bürgern, die sich ausschließlich zum Beispiel über ARD und ZDF informieren, von den Protesten. Die Existenz der oppositionellen Bürgerbewegung war schon vorher bekannt. Die Bürgerrechtler selbst waren in der DDR aber eher gesellschaftliche Außenseiter, konnten aber über die Medien nun ihre Botschaften transportieren. Es kommt sogar zu kleinen Spontandemonstrationen, bei denen bisher Unbeteiligte die Freilassung der Verhafteten forderten. Ein Super-GAU für die Staatssicherheit, die nun versucht, Peter etwas anzuhängen, was aber misslingt.

Folgerichtig wird am Ende in einem zusammenfassenden Satz herausgestellt, dass die breite Solidarisierungswelle „ein erster Keim für die Revolution von 1989, die das SED-Regime hinwegfegen sollte” war. Als Leser ist man sogar etwas enttäuscht, dass die Geschichte mit dem Hinweis „Doch bis dahin war es noch ein weiter Weg” endet. Auf jeden Fall entsteht Appetit auf mehr, der in Bezug auf die DDR-Geschichte durch den auf den ersten Blick „fragwürdigen” Geschichtscomic verstärkt wird. Dieser ist auch deshalb gelungen, weil immer wieder Hintergrundinformationen eingestreut und zu finden sind. Die Synthese: Comics können Bildung vermitteln. Jugendliche sind danach gebildeter. Auch ältere Menschen haben nach der Lektüre mehr Ahnung über Geschichte.

1 / 2 / Auf einer Seite lesen

Kommentare (13)

  1. #1 Dr. Webbaer
    August 3, 2012

    Niemand bestreitet, dass für die intellektuelle Entwicklung eines Grundschulkindes eine Playstation als Geburtstagsgeschenk bedingt hilfreich ist.

    Manche bestreiten auch dies, zumindest wenn Sie das ‘bedingt’ negativ verstehen. Wirtschaftssimulationen bspw. sind lehrreich, für den Historiker könnte die Playstation-Implementation von Sid Meier‘s Civilization interessant sein und generell bilden auch eher actionhaltige Simulationen wie Warcraft oder StarCraft. – Bildung wird nicht durch das Medium schlecht, wie ja auch im Blogartikel angedeutet wird, ja, sogar Comics bilden oder können bilden.

    MFG
    Dr. Webbaer

  2. #2 TopDoors
    August 3, 2012

    @ Dr. Webbaer
    Da haben Sie Recht und man sollte sehr vorsichtig damit sein Videospiele als Teufelswerkzeug zu verurteilen. Viele der Spiele fördern und setzen auch strategisches Denken voraus. Auch solche, die im öffentlichen Diskurs mit der unangemessenen Bezeichnung “Killerspiele” gebrandmarkt werden.

  3. #3 Stefan W.
    August 3, 2012

    Bemerkenswert einen Comic zu besprechen, und der Leser weiß danach nicht, ob er schwarz/weiß oder farbig ist, welche weiteren Stilmerkmale benutzt werden, wer der Zeichner ist – ist das der erste Comic den Du besprichst?

    Funktioniert der Comic nur als Unterrichtsmaterial, oder ist er auch so unterhaltsam, spannend?

  4. #4 Orthos
    August 3, 2012

    Ist das Spelen eines Computerspiels weniger bildend als das Lesen eines Romans?

    Wenn ich beispielsweise Perry Rhodan lese, bin ich im Nachhinein dann “schlauer” als vorher?
    Nein, ich habe lediglich meine Langeweile (erfolgreich) bekämpft.

    Analog ist dies auch bei Killerspielen.

    Wichtig ist nur, das beide Tätkeiten nicht zum Lebensinhalt werden. Die Dosis ist entscheidend.

    Es stellt sich mir auch die Frage inwieweit Faktenwissen (Namen, Daten, Zahlen) Bestandteil und/oder Vorraussetzung von Bildung ist.

    Kleine Anmerkung am Schluss: Gerade Starcraft setzt hochgradig strategisches Denken voraus. 😉

  5. #5 Marc B.
    August 3, 2012

    Ich habe Spitzer gestern im DLF gehört und fürchte, diese Diskussion ist noch nicht zu Ende. Dabei merkt der Mann überhaupt nicht, dass er 1:1 die “Argumente” wiederholt, warum Film, “Schmutz und Schund”, Fernsehen, Comics, Pornographie und so weiter der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen schaden.

    Natürlich ist jeder Einzelfall einer zu viel, aber wir müssen eben immer im Kopf haben, dass sowohl Gewalt gegen Kinder als auch Gewalt unter Kindern und Jugendlichen noch nie so gering war wie heute. Es gibt auch keinerlei Anzeichen dafür, dass Kinder und Jugendlichen heute weniger lernfähig sind als irgendwann zuvor. Allerdings lernen Kinder heute völlig andere Fähigkeiten und unser Bildungssystem ist da noch nicht mitgekommen.

  6. #6 rolak
    August 3, 2012

    Selbstverständlich können Comics förderlich sein – nicht nur, daß ein wesentlicher Startteil meines Französisch aus Comics stammt (der Rest aus dem reden-müssen in Frankreich), vor jeder Fahrt nach F nehme ich wieder ein, zwei Hefte durch zum Erinnern bzw pro­phy­lak­tischen Umstellen des Sprachdenkens. Funktioniert sehr zufriedenstellend…

    Und da bin ich noch gar nicht bei transportierten Inhalten 😉

  7. #7 jitpleecheep
    August 3, 2012

    Ich habe Spitzer gestern im DLF gehört und fürchte, diese Diskussion ist noch nicht zu Ende. Dabei merkt der Mann überhaupt nicht, dass er 1:1 die “Argumente” wiederholt, warum Film, “Schmutz und Schund”, Fernsehen, Comics, Pornographie und so weiter der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen schaden.

    Ach, siehste, den wollt ich gestern auch gehört haben, danke für’s erinnern: https://www.dradio.de/dlf/sendungen/corso/1826178/
    Meine Güte ist das Fremdschäm hoch drei… Wusst ich gar nicht, dass der so abdreht… “Musik im Kopf” war ja noch halbwegs erträglich, aber das was er auf DLF ablässt ist ja nur noch schlimm…

    Wenn’s nach Leuten wie Spitzer geht, müssen wir seit den Griechen konstant dümmer geworden sein. Wenn man Bücher hat, braucht man das ja nicht mehr alles behalten — und wir wissen ja was mit einem Muskel passiert, den man nicht trainiert!
    Man versteht gar nicht, wie wir uns heute überhaupt noch die Schuhe binden können.

    @Christian Jung:

    Die Synthese: Comics können Bildung vermitteln.

    Abgesehen davon, dass Bildung ja auch nicht so einfach zu definieren ist: Gibt’s immer noch Leute, die das ernsthaft bestreiten?
    Wer vom Gegenteil überzeugt werden muss, dem gebe man:
    – Maus I & II
    – Safe Area Goražde
    – Persepolis I & II
    – Praktisch den komplette Jacques Tardi

  8. #8 trafozsatsfm
    August 4, 2012

    Letztlich ist es egal, mit welchem Medium man Bildung vermittelt, es zählt nur das Ergebnis. Man sollte nur vorsichtig sein, nicht immer auf das scheinbar einfachste Medium zurückzugreifen (“Können wir dazu nicht einfach ‘nen Film gucken?”). Filme können sinnvoll sein, Bücher sollte man auch lesen können, und warum sollte man nicht auch Comics lesen, wenn sie Inhalte gut transportieren? Es kommt auf die Mischung an.

    @Orthos

    Wenn ich beispielsweise Perry Rhodan lese, bin ich im Nachhinein dann “schlauer” als vorher?
    Nein, ich habe lediglich meine Langeweile (erfolgreich) bekämpft.

    Och, ich habe zwar seit über 30 Jahren keinen Perry-Rhodan-Roman mehr gelesen, würde aber nicht behaupten, dass ich aus den Heftchen nichts gelernt hätte, zumindest indirekt: Meine (natürlich immer noch laienhaften) Kenntnisse über Zeitdilatation und Relativität hätte ich wahrscheinlich nicht, wenn das damals nicht bei Perry Rhodan thematisiert worden wäre.

  9. #9 Christian Jung
    August 4, 2012

    @Stefan W.: Danke für den Hinweis. Ich lege einen Infokasten am Ende des Textes an, indem Deine Fragen beantwortet werden.

  10. #10 BreitSide
    August 4, 2012

    xxx

  11. #11 Stefan W.
    August 5, 2012

    Danke für die Aktualisierung. 🙂

  12. #12 threepoints...
    August 17, 2012

    Was denn jetzt? Bildung durch Comics…? Jetzt muß man also bei den Comics auch noch unterscheiden und kann nicht davon ausgehen, dass es sich dabei nur um unterhaltsamen Nonnsens handelt. Schade eigendlich. War doch schön mit dem einfachen Weltbild. Nun ist es wohl vorbei.

  13. #13 hardy
    hinterwaldwelt.blogspot.de
    September 15, 2012

    lieber rolak,

    ich würde dir gerne “circus”, “a suivre”, “bodoi”, “metal hurlant” etc ans herz legen … nur leider gibt’s die ja nicht mehr … probier mal “L’immanquable” oder “dBD” bzw. zur not auch “caseMate” … die dürften deinen blick auf die hohe kunst der bédés erweitern.

    ansonsten: zustimmung! es gibt nichts besseres, um sein französisch geschmeidig zu halten als französische comix (nagut, bédéX ginge natürlich auch …)

    und, wenn du ganz mutig bist, probier mal die “rock & folk”, meilen besser als alles, was der springer verlag heute so als “rockmusik”-zeitungen unter’s volk bringt …