Auf den ersten Blick lassen die Eckdaten Marthe Vogts Biographie auf eine sehr nüchterne Wissenschaftsbiographie schließen: Die Eltern beide Wissenschaftler, die jüngere Schwester ebenfalls, nie verheiratet, keine Affären, dafür eine lange Liste an Publikationen und Ehrungen. Liebstes Hobby: Gartenarbeit.
Erst beim zweiten, genaueren Blick fallen die Details auf. Zum Beispiel, dass Marthe Louise Vogt haargenau hundert Jahre und einen Tag alt wurde. Und dass zwischen ihrer ersten und letzten Publikation genau fünfzig Jahre lagen – da war sie 85 Jahre alt. Und man merkt: Wer im Alter noch so ein reger Geist war, kann kein langweiliger Mensch gewesen sein.
Geboren wurde Marthe Vogt am 8. September 1903 in Berlin Zehlendorf. Ihre Eltern, beide frühe Hirnforscher, leiteten ein eigenes Institut für Neuroanatomie, das ein Jahr vor Marthes Geburt von der Berliner Universität (heute Humboldt-Universität) übernommen wurde. Aus einer sehr „europäischen” Familie stammend – der Vater war Deutscher dänischer Herkunft, die Mutter Französin – spielte politischer Patriotismus im Hause Vogt keine Rolle. Auch während des ersten Weltkriegs blieb die Familie, in die 1913 noch die jüngere Tochter Marguerite geboren wurde, unpolitisch.
1923 begann Marthe ihr Studium an der Berliner Universität – da ihr Stundenplan ihr noch Freiräume bot, besuchte sie neben den vorgesehenen Vorlesungen in Medizin und Chemie zusätzliche Kurse in Psychologie und Biologie. Nach ihrer Promotion (Medizin 1928, Chemie 1929) arbeitete sie zunächst als Assistentin am Pharmakologischen Institut, ab 1931 dann am Institut ihres Vaters.
Zu ihrer politischen Haltung ist nicht viel bekannt – zwar hatte Marthe Vogt wohl bereits vor 1933 „Mein Kampf” gelesen, jedoch bezweifelte sie sehr lange, dass dieser Autor besonders viel Macht erlangen könnte. 1935 dann wurde ihrem Vater gekündigt, nachdem er sich geweigert hatte, jüdische Mitarbeiter zu entlassen und auch Marthe fühlte sich unter den Nationalsozialisten zusehends unwohl.
Da sie keine Möglichkeit mehr sah, sich wissenschaftlich frei zu betätigen, verließ die junge Medizinerin mit dem Rockefeller Travelling Fellowship ausgestattet noch im selben Jahr Deutschland und forschte zunächst am Institute for Medical Research in Hampstead bei London. Dann wechselte sie an das Department of Pharmacology in Cambridge.
Dort holte sie ihre deutsche Vergangenheit wieder ein: Zu Beginn des zweiten Weltkriegs wurden sämtliche in Großbritannien lebende Deutsche auf ihre Loyalität geprüft. Im Laufe der Ermittlungen gegen Marthe Vogt entdeckte die Britische Staatsanwaltschaft jedoch, dass die Wissenschaftlerin Mitglied der Deutschen Arbeiterfront war. In diese wurde sie automatisch in ihrer Zeit am Berliner Institut aufgenommen – ihre Anträge, aus der Arbeiterfront auszutreten, wurden abgewiesen. Da sie „nur” über ein Stipendium nach England gelangt war, zählte sie nach wie vor als deutsche Wissenschaftlerin, die früher oder später auch in ihre Heimat zurückkehren würde, auch wenn dies nie ihre Absicht war.
Im Dezember 1939 wurde die Situation für Marthe Vogt noch dramatischer: Als feindliche Wissenschaftlerin eingestuft, sollte sie bis zum Ende des Krieges ins Gefängnis. Einzig ein nachsichtiger Richter gab ihr die Gelegenheit, zwischen Heiligabend und Neujahr Zeugen für ihre antinationalsozialistische Haltung zu finden. Am 2. Januar bereits erhielt derselbe Richter 28 Briefe von englischen Freunden und Bekannten Marthe Vogts, die ihre Ungefährlichkeit erklärten.
In den folgenden Jahren wurde das Leben der Wissenschaftlerin entspannter: Sie leitete die Pharmakologische Abteilung des Agricultural Research Council Institute of Animal Physiology in Babraham bei Cambridge, unterstützte junge ausländische Wissenschaftler bei ihren Forschungen und forschte selbst an der Wirkungsweise von Neurotransmittern.
1974 wurde Marthe Vogt für ihre Arbeit mit der Schmiedeberg-Plakette ausgezeichnet, die Universitäten in Edinburgh und Cambridge verliehen ihr Ehrendoktorate. In Cambridge war sie die erste Frau, der diese Ehre zuteil wurde. 1976 erhielt sie die Thudichum Medal der Neurochemical Group der British Biochemical Society und 1981 die Royal Society Gold Medal. 1982 veröffentlichte sie zum letzten Mal “offiziell”, damals über die Wirkung von Morphium. Die letzte tatsächliche Veröffentlichung erschien jedoch erst vier Jahre später – auch wenn Marthe Vogt diese bereits nicht mehr unter ihren Veröffentlichungen auflistete.
Im selben Jahr noch verließ sie Cambridge und zog zu ihrer Schwester nach La Jolla in Kalifornien, wo sie bis zu ihrem Tod am 9. September 2003 lebte. Marguerite Vogt starb am 6. Juli 2007.
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