Filterblasen, Hatespeech, postfaktisches Zeitalter: Viele Ansichten und Thesen laufen derzeit durch öffentliche Diskurse. Manche meinen heutzutage gebe es keine Fakten mehr. Andere geißeln sich, sie müssten aus ihren Filterblasen heraustreten. Wieder andere rüpeln durchs Netz und hinterlassen Spuren der virtuellen Verwüstung. Schwarz-Weiß-Malerei und unergiebige Diskussionen ziehen sich durch Facebook, Twitter und Co. Schuld ist das Netz. Niemand hört mehr auf die ‚Intellektuellen‘. Früher war alles besser, ist immer wieder zu lesen, heute ist alles ganz schrecklich.
Heute beim Frühstück waren einige der oben genannten Punkte Thema. Klar, diese Dinge sind derzeit im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Vieles davon ist relativ gesehen neu – zumindest im Verhältnis zur Dauer der restlichen Medienhistorie. Aber ganz neu ist das alles nicht. Hier ein paar Aussagen, die im Diskurs des Öfteren zu hören sind und einige Thesen und Erwiderungen aus sozial- und medienwissenschaftlicher Sicht darauf:
„Wir leben in einem postfaktischen Zeitalter!“
Die Ansicht heute in einer postfaktischen Zeit zu leben, in der gesicherte Erkenntnisse nicht mehr zählen und Unwahrheiten zu vorherrschenden Inhalten werden, ist – nun ja – interessant. Vor allem weil diese impliziert, davor wäre so etwas wie ein faktisches Zeitalter gewesen. Wo und wann soll das gewesen sein? Der Alltag war immer schon nicht-faktisch. Ein entscheidender Faktor für die derzeitigen Debatten ist die Sichtbarkeit. Was wir beobachten können ist, dass die althergebrachten Filter, die Fakten von Gerüchten trennen, nicht mehr im gleichen Maß funktionieren. Ein Beispiel dafür sind Medien wie Zeitungen oder Fernsehen. Diese hatten über lange Zeit die Funktionen inne den Informationsfluss zu filtern, Fakten von Nicht-Fakten zu trennen und zu entscheiden welche Inhalte in die Öffentlichkeit gelangen. Auch da gab es immer schon mediale Formen, die ihren Schwerpunkt im Nicht-Faktischen hatten – Boulevardmedien, die Regenbogenpresse, usw. – nur konnten diese eingeordnet werden und deshalb auch unter dem Filter dieser Wahrnehmung konsumiert werden.
Mediale Filterfunktionen greifen heute nicht mehr in gleicher Weise. Äußerungen, ob faktisch oder nicht, werden via Social Media oder Websites gleichrangig zugänglich. Die NutzerInnen sind damit mehr gefordert selbst zu beurteilen was wahr ist oder eben nicht. Und wie meist bei technologischen Entwicklungen hinken die gesellschaftlichen Entwicklungen hinterher. Medienkompetenzen bzw. media literacy, der englischsprachige Begriff ist da weitaus treffender, konnten mit der Entwicklung von Kommunikationstechniken nicht mithalten. Die meisten Menschen sind schlicht nicht so weit. Und auch die oft vielgepriesenen ‚digital natives‘ sind da nicht weiter als die ‚digital immigrants‘. Eine kürzlich veröffentlichte Studie aus Stanford hat dies klar gezeigt: Die meisten jungen Menschen können Fakten und Fake-News nicht unterscheiden. Die mehrere Jahrzehnte alte Forderung Lehrpläne diesbezüglich aufzuwerten und das Thema in den Schulalltag aufzunehmen sind meist das Papier nicht wert auf dem sie stehen.
Fazit: Wir leben in keinem postfaktischen Zeitalter. Wir waren niemals in einem faktischen. Das nicht-faktische wird inzwischen einfach sichtbarer und die adäquaten Strategien um damit umzugehen, wurden noch nicht entwickelt.
„Wir alle leben in Filterblasen!“
Natürlich, das tun wir. Die Algorithmen von Social Media Plattformen zeigen uns mehr von dem, was wir liken, teilen oder kommentieren. Dadurch werden Informationen gefiltert und wir bekommen zu sehen, was uns entspricht. Allerdings ist das ganz und gar nichts Neues. Die größte Filterbubble von allen ist unser Alltag. Nichts ist mehr gefiltert als unser reales Leben. Wir brauchen Mechanismen um mit der Komplexität des Alltags umzugehen. Deshalb lernen wir von Anfang an auszuwählen. Der Prozess nennt sich Sozialisation und ist so alt wie die Menschheit selbst. Unsere Umfelder und Herkünfte gestalten unsere Wahrnehmungen mit, wir lernen abzuwägen und zu beurteilen.
Unsere direkten Kontakte wählen wir dementsprechend passend aus. Wir umgeben uns mit Menschen mit denen wir uns wohlfühlen. Und mit wem fühlen wir uns wohl? Mit anderen, die uns bzgl. Einstellungen und Verhalten ähnlich sind – soziologisch formuliert: Mit jenen, die uns habituell ähnlich sind. Bourdieu lesen hilft diesbezüglich übrigens ungemein. 😉
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