Kinder, wie die Zeit vergeht… schon 10 Jahre Scienceblogs. Die Scienceblogs sind eine der wenigen mir bekannten Wissenschaftsblog-Plattformen (natürlich kenne ich auch die Scilogs) mit einem breiten Angebot an Disziplinen, auf denen man direkt mit Wissenschaftlern und Technikern kommunizieren kann – das kannte ich früher (Ende 80er/Anfang 90er) aus dem Usenet (sci-Newsgroups), aber es ging ein wenig verloren, als das Internet von einem Kommunikationsnetz zwischen Universitäten zunehmend kommerzialisiert wurde, einem breiteren Publikum zugänglich wurde und es mittlerweile zig Diskussionsforen zu allem möglichen gibt, wo Laien und Amateure meist unter sich bleiben. Was in solchen Foren normalerweise nicht möglich ist, ist Wissenschaftlern unmittelbar Fragen zu stellen. Auf Scienceblogs kann man sich hingegen direkt mit seinen Fragen an Fachleute wenden und bekommt ebenso direkt Antwort. Die veröffentlichten Artikel kommen natürlich auch direkt vom Fach – anders als in den Wissenschaftskolumnen von Webmagazinen, in denen die Information von mehr oder weniger kundigen Journalisten interpretiert und allzu oft verzerrt oder fehlerhaft wiedergegeben wird.
Der erste Kontakt
Ich hatte nach dem Niedergang der Usenet-Groups früher des Öfteren mal im Kommentarbereich der Wissenschaftsartikel von Spiegel Online kommentiert, aber da war der Anteil von unsachlichen Kommentaren sehr hoch (leugnen des Klimawandels oder anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse, ständige Kostendiskussion bei jedem wissenschaftlichen Thema etc.), und Artikel von mir kamen teilweise nicht durch die Moderation, während Crackpot-Artikel veröffentlicht wurden, was mir auf Dauer die Lust am Kommentieren dort verdarb. Bei den Scienceblogs war ich nicht gleich von Beginn an mit dabei; meine erste Diskussion, noch unter anderem Nick “evoluzzer”, fand Ende 2009 zur Zeit der atheistischen Buskampagne statt, als es auf Astrodicticum Simplex einen Gastbeitrag von “sapere aude” gab, der damals noch glühender Atheist war (und mittlerweile zum Theisten konvertierte). Unter dem provokanten Artikel “Der agnostische Fehlschluss oder Warum Richard Dawkins irrt” entspann sich eine leidenschaftliche Diskussion darüber, ob sich eine gesicherte Aussage darüber treffen ließe, dass es keinen Gott gebe. Die Diskussion darüber lief über beinahe 1200 Kommentare (und wurde Jahre später noch fortgesetzt). Religion ist stets ein Thema, zu dem es lange Diskussionen gibt, weil jeder mitreden kann und der eigene Standpunkt oft leidenschaftlich vertreten wird. Und eben weil die Existenz wie Nichtexistenz eines Gottes prinzipiell nicht beweisbar ist – eine Erkenntnis, die man mich schon in der Oberstufe im Philosophieunterricht lehrte.
Das zeichnete die Scienceblogs schon immer für mich aus, die Kommentare sind hier weit mehr als Sachfragen und kurze Antworten. Es gibt eine sehr aktive Community, innerhalb der Themen vertieft und erweitert werden. Darunter sind Leute mit Fachkenntnissen wie Ärzte, Chemiker, Geologen, Physiker, Elektroingenieure etc., so dass die Diskussionen überwiegend mit großer Sachkenntnis geführt werden und keine Frage offen bleibt – und auch kein Fehler im diskutierten Artikel. Der Tonfall ist überwiegend respektvoll, was ich anderswo schon ganz anders erlebt habe.
Die Rückkehr
Mein eigentlicher Einstieg, nachdem ich dann regelmäßig mit las (zuerst nur Astrodicticum Simplex, weil Astronomie mein Hobby ist), war dann zur Zeit des Reaktorunglücks in Fukushima im März 2011. Ich war damals entsetzt und fassungslos, dass die Tepco-Techniker tagelang nur mehr oder weniger tatenlos zusehen konnten, wie ein Reaktorgebäude nach dem anderen in die Luft flog. Ich hatte, auch nach Tschernobyl, eigentlich immer großes Vertrauen in die Kernenergie und hatte den Glauben, man hätte diese auch bei Störfällen noch im Griff. In Fukushima Daiichi fiel nach dem Tsunami der Strom für die Kühlung der Reaktoren aus, und Notstromaggregate wurden überflutet und zerstört. Das reichte aus, um die Kontrolle über die Reaktoren zu verlieren. Kurz zuvor hatte ich in der renommierten Astronomie-Zeitschrift Sky & Telescope einen Artikel über die Gefahr von Sonnenstürmen gelesen – die Autoren (der Leiter des Labors für atmosphärische und Weltraum-Physik der Universität Boulder, Colorado, und der Direktor der Abteilung planetare Wissenschaft am NASA-Hauptquartier, also durchaus Experten in ihrem Gebiet) prophezeiten für eine heutige Wiederholung des “Carrington Events” große Schäden am US-Stromnetz durch überlastete Transformatoren, die in manchen Teilen des Netzes wegen der begrenzten Produktionskapazitäten für Ersatz-Hardware zu monate- bis gar jahrelangen Stromausfällen führen könnten – und so schloss ich etwas voreilig, dass damit auch die Kühlung für einige Kernkraftwerke gefährdet sein könnte. Damit platzte ich als Kommentator zu einem Artikel herein, in dem Florian Freistetter gerade versuchte, besorgten Lesern die Angst vor dem Weltuntergang 2012 zu nehmen, für den Dieter Broers unter anderem katastrophale Sonneneruptionen “vorhergesagt” hatte – von Broers oder den Weltuntergangsszenarien für 2012 hatte ich bis dahin noch nie gehört, und so begann mein Einstand mit einem Missverständnis und ich war zuerst einmal ein Crackpot mit einer scheinbar absurden Theorie. Die folgende Diskussion war jedenfalls lehrreich. Mit etwas Abstand würde ich rückblickend mein früheres Ich heute darauf verweisen, dass die Autoren aus dem S&T-Artikel selbst nichts dergleichen in ihren Risikoszenarien aufführten. Ein großer Freund der Fissionsenergie bin ich seitdem trotzdem nicht mehr geworden. Immerhin gab es zwei Katastrophen, die eigentlich nur alle zigtausend Jahre prognostiziert waren. Dabei wurde die Fehlbarkeit des Menschen wohl unterschätzt.
Was mache ich hier eigentlich?
Jedenfalls musste ich mir danach zuerst meine Anerkennung verdienen, indem ich die eine oder andere Frage zur Astronomie mit beantworten helfen konnte. Ich betreibe Astronomie als Hobby seit mehr als 40 Jahren und habe im Studium auch ein paar Semester Physik und Astronomie im Nebenfach gehört, so dass ich die eine oder andere einfache Frage beantworten kann, auch wenn meine Kenntnisse aus dem Studium in den 80er Jahren schon etwas angestaubt sind. Bin auch von Berufs wegen ständig online und schaue immer mal wieder nach neuen Wortmeldungen, und es macht mir Spaß, wenn ich jemandem etwas erklären kann. Dabei werden so viele interessante Fragen gestellt, die ich meistens nicht aus dem Stegreif beantworten kann, sondern für die ich selber recherchieren muss, und dabei lerne ich selbst mit dazu, unter anderem auch, wie man argumentiert und erklärt. Ich verfolge nicht alle Scienceblogs, sondern vor allem diejenigen, die sich mit Astronomie, Physik und Raumfahrt beschäftigen (Hier wohnen Drachen, Meertext, Hinterm Mond gleich links, Frischer Wind) – bei denen ich dann eben auch an den Kommentaren teilnehme. Mehr wäre zu viel Zeitaufwand, es gibt einfach zu viele Blogs hier. Dafür ist für jeden was dabei.
Was ich an den Artikeln schätze, ist dass sie die Wissenschaft nicht, wie oft im TV, auf Grundschulniveau behandeln, sondern dass man auch mal komplexere Dinge lernt. Zum Beispiel bei Martin Bäker, der mit seinem Physik-Blog angenehm die klaffende Lücke zwischen der Physik in den Massenmedien und derjenigen in Fachbüchern und -artikeln füllt, und sich auch mal traut, ein Integral hinzuschreiben. Wenn man’s nicht gleich versteht, kann man im Kommentarteil ja nachfragen.
Durch einige Artikel bei “Was geht?” habe ich dann auch mein Vertrauen in die Kernkraft teilweise restauriert – mir wäre es lieber, man hätte in den vergangenen Jahren Kohlekraftwerke statt Kernkraftwerken zuerst stillgelegt, weil die Kohlekraftwerke mit jedem Betriebstag den Klimawandel befördern, während die Kernkraftwerke vor allem ein latentes Risiko bedeuten und es bei der Entsorgung des Mülls letztlich nicht darauf ankommt, ob es ein paar Tonnen mehr oder weniger sind (die sich, wie ich hier lernte, zu harmloserem Müll transmutieren ließen, wenn man es nur ernsthaft wollte). Aber, und auch das habe ich bei den Scienceblogs gelernt, demokratische Regierungen entscheiden selten danach, was wissenschaftlich das Vernünftigste wäre, sondern danach, was bei den Wählern mutmaßlich am besten ankommt (den Industrielobbyismus mal beiseite gelassen). Deswegen wird dann beispielsweise ein Gentechnikverbot ausgesprochen oder Glyphosat verteufelt, während Homöopathie von den Krankenkassen bezahlt wird. Es gibt zu viele Bedenkenträger und Lobbyisten mit zu viel Einfluss auf die öffentliche Meinung und zu wenig Sachkenntnissen. Die Scienceblogs sind einer der wenigen Orte, wo der oder die Interessierte Zugriff auf solche Sachkenntnis hat und seine Bedenken vortragen und bewerten lassen kann. Ich wünschte mir, viel mehr Menschen würden diese Gelegenheit auch wahrnehmen.
Die Abgründe
Ein interessantes Phänomen, das ich aus dem Usenet schon kannte, findet sich auch bei den Scienceblogs, der Crackpotismus. Natürlich lockt die Gelegenheit, mit einem echten Wissenschaftler kommunizieren zu können, eine kleine, überschaubare Zahl von, nennen wir sie “Hobby-Wissenschaftlern” (nicht selten Pensionäre mit Ingenieurslaufbahn), aus der Reserve, die sich auf der Basis mathematischer Kenntnisse auf Mittelstufenniveau und einem aus populärwissenschaftlichen Büchern erworbenen Grundverständnis (das an sich lobenswert ist) zutrauen, auf die von Millionen Wissenschaftlern noch nicht beantworteten großen Fragen eine an einem Sonntagnachmittag erdachte Antwort geben zu können – eine Antwort, die der interessierte Amateur oder Student vom Fach meist ohne nachzudenken sofort als… Naturdünger erkennen kann (meist wurde das Problem erst gar nicht richtig verstanden und niemals der Stand der Technik). Da wird der Urknall geleugnet, das Universum von elektrischen Kräften zusammen gehalten, die Kreiszal π ist gar nicht transzendent, sondern 4/√Φ (wobei Φ die Zahl des goldenen Schnitts ist), oder die Mondlandung durch umfangreiche Rechnungen mit fehlerhaften Formeln “widerlegt” (die entsprechenden Kommentare verlinke ich mal bewusst nicht, um keine Zombiediskussionen wieder zu erwecken). Die Wissenschaft, die die Meinung der Kommentatoren nicht anerkennen will, sei gegen sie oder die Wahrheit verschworen oder dogmatisch auf ihre Bücher fixiert, ohne offen für Neues zu sein. Über die wissenschaftliche Arbeitsweise wissen diese Kommentatoren nichts, sie haben offenbar eine sehr verschrobene Vorstellung davon, was Wissenschaft ist (anscheinend eben, an einem Sonntagnachmittag eine gute Idee für eine plausibel scheinende einfache Erklärung zu haben, die dann ungeprüft als “Theorie” in einem Buch veröffentlicht wird – nein, so läuft das in Wirklichkeit nicht, ganz und gar nicht!) und wie sie sich selbst korrigiert – und durchaus auch schon mehrfach revolutioniert hat – wenn die Messdaten das erforderten. Es ist erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit sich diese Kommentatoren jeglicher Argumentation verschließen – und wie schwierig es ist, selbst einfachste Sachverhalte wie die Krümmung der Erdoberfläche zweifelsfrei argumentativ zu belegen. Am Ende kann man nicht argumentativ gewinnen, wenn die andere Seite sich dagegen sperrt. Die Abgründe des menschlichen Geistes sind tiefer, als ich es mir jemals hätte vorstellen können, auch das ist eine Erkenntnis aus den Scienceblogs, eine, die mich manchmal erschaudern lässt, denn solche Leute nehmen auch an Wahlen teil.
Und sonst?
Neben der Wissensvermittlung bieten die Scienceblogs aber auch Kurzweil. Hervorgehoben seien Artikel zum 1. April z.B. bei Geograffitico oder Hier wohnen Drachen, der jährliche Blogschreibwettbewerb oder das halbjährliche Rätsel, bei dem man jeweils dem Artikel oder Hinweis des nächsten Tags entgegen fiebern kann. Ein großer Dank an Florian Freistetter, der letztere beiden betreut, neben seiner zahlreichen Artikel auch in anderen Kolumnen (Scilogs, Standard, mehrere Podcasts, selbst im ZDF sah man ihn schon) und seinem Engagement bei den Sciencebustern. Ich hoffe, er bleibt uns noch lange hier erhalten, er ist gewissermaßen der “Stefan Raab der Scienceblogs”. 😉
Scienceblogs sind gesund!
Zu guter Letzt hat Florian Freistetter mein Leben auch persönlich beeinflusst. Er hat 2014, vor allem durch Sport, gewaltig an Gewicht verloren (hier eindrucksvoll dokumentiert) und dieses Vorbild hat mich ermutigt, ebenfalls etwas gegen meine damaligen fast 104 kg (bei 1,83 m Körpergröße) und Atemnot vor der Wohnungstüre im 2. Stock zu unternehmen. Schuhe binden war ohne Luftanhalten auch nicht mehr machbar. An einem trüben Silvestertag 2014 gelobte ich im Kommentarbereich eines seiner Artikel über das Laufen, im folgenden Jahr mit dem Schwimmen zu beginnen, und nach anfänglichem Erfolg traute ich mir nach 7 Monaten dann auch erste Laufversuche zu und betreibe seitdem regelmäßig dreimal die Woche je 1-1,5 h Sport. So habe ich binnen zwei Jahren fast mühelos auf 84 kg abgespeckt, erklimme im Alter von 53 problemlos jeden Turm, bin viel seltener erkältet, habe auch kein chronisches Sodbrennen mehr und mein Arzt ist über viel bessere Blutwerte erfreut. Damit ist die Nützlichkeit der Scienceblogs für mich zweifelsfrei belegt!
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