Der Philosoph Karl Popper hat Studienanfängern den Rat gegeben, daß sie dann, wenn sie ein offensichtliches Problem lösen wollen, erst einmal nachsehen sollen, ob sich nicht schon vor ihnen jemand darum bemüht hat. Diesen Rat könnte man der amerikanischen Professorin Sandra Mitchell geben, die uns in einem Buch mit dem Titel “Komplexitäten” (in der Edition Unseld, die eher wie eine Edition Unselig wirkt) auf den merkwürdigen Widerspruch hinweist, der zwischen den einfachen Gesetzen der Physik und den komplexen Wirklichkeiten besteht. Sie zieht daraus den Schluss, daß die Physik die Welt nicht erklären kann, daß wir – so in einem nachgeschobenen SPIEGEL ONLINE Essay – vielmehr eine neue Erkenntnistheorie benötigen, um zu verstehen, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.
Tatsächlich hat Sandra Mitchell nur ihre Hausaufgaben nicht erledigt und das ignoriert, was Physiker seit Jahrzehnten (Plural) über komplexe Systeme wissen und publizieren. Und es wäre ganz einfach gewesen, das herauszufinden. Mehr dazu im erweiterten Text.

Das Argument, daß aus einfachen Dingen nichts Komplexes entstehen kann, sollte man nicht ernst nehmen. Unsere Gene sind einfach, und das Leben, das sie erzeugen, ist komplex. Der Grund steckt darin, daß es zwischen den Genen und dem Leben das biochemische Geschehen gibt, von dem nie jemand behauptet hat, es sei einfach. Einfach ist nur, daß dieses Schema ausreicht, um zu verstehen, was passiert. Aus einfachen Genen entfaltet eine raffinierte Biochemie das komplexe Leben.
Die Physik kann man genauso beschreiben. Aus den einfachen Gesetzen entfaltet die raffinierte Mathematik der Szenarien die komplexe Wirklichkeit, um die es geht. Szenarien vermitteln zwischen den Naturgesetzen und der Natur selbst, wie die Biochemie zwischen den Genen und dem Leben vermittelt. Die Einsicht in die Existenz von Szenarien verdanken wir der Komplexitätsforschung der 1980er Jahre. Wir brauchen kein neues (kompliziertes) Denkmodell – etwa den integrativen Pluralismus, den Frau Mitchell anpreist -, wir brauchen Autoren, die die alten Konzeptionen verstehen und einfach darstellen. An dieser komplexen Aufgabe scheitern die “Komplexitäten” kläglich.

Kommentare (5)

  1. #1 Joel Smith
    Mai 31, 2008

    Versuchen Sie Lesen des Buches. Das Argument ist sehr viel mächtiger als Ihr Charakterisierung.

  2. #2 Thilo Kuessner
    Mai 31, 2008

    @ Joel Smith:

    Ich fand auch, daß Mitchell’s Essay nur eine Ansammlung von Selbstverständlichkeiten ist, die durch Einfügen einiger wissenschaftlich-klingender Begriffe wohl noch einen seriösen Anstrich bekomen sollte.
    Der Essay zeigt freilich, daß man auch über sehr unkomplexe (man könnte auch sagen: banale) Behauptungen einen komplex und wissenschaftlich aussehenden Text schreiben kann.
    Insofern ist Mitchell’s Arbeit tatsächlich das Gegenstück zu den Wissenschaftlern, denen sie vorwirft einfache Theorien zu komplizierten Sachverhalten zu liefern. Sie liefert kompliziert formulierte Theorien zu einfachen Sachverhalten.

  3. #3 kamenin
    Mai 31, 2008

    Mitchell in kurz: Ich nehm jetzt mal ewig bekannte Wissenschaftstheorie, behaupte die wäre revolutionär neu, und damit’s keiner merkt, nenn ich es Erkenntnistheorie. Ist zwar eigentlich was anderes, wird dann auch nicht mehr durch meine Argumente gestützt, aber soll man mir erst mal das Gegenteil beweisen.

  4. #4 Simone Jost
    Juni 23, 2008

    Kluger Mann, der Herr Popper! Er hat übrigens auch gesagt, dass ein System seine eigene Existenz nicht garantieren, sie aber selbst beenden kann 🙂

    Hallo Herr Fischer … ich hoffe es geht Ihnen gut? Habe den Blog soeben erst entdeckt!

    Viele Grüße, Simone Jost

  5. #5 taurus
    Juli 2, 2008

    Dass z.B. das ganze mehr sein kann (nicht muss) als die Summe seiner Teile ist schon seit Kurt Gödel bekannt. Ob diese Einsicht jedoch schon Einzug in unser Denken gefunden hat, darf aus heutiger Sicht durchaus noch bezweifelt werden. Mit immernoch stoischer Ignoranz verstehen sich die heutigen Naturwissenschaftler als einzig wahre Hüter der Wahrheit. Dabei begeben sich ihre Annahmen immer weiter auf das geistige Glatteis der Hypothese.
    Relativ aktuelles Beispiel scheint mir die “Erfindung” der “dunklen Energie”. Für mich ein abstruser Versuch die bestehenden Annahmen über das Wesen des Universums mit aktuelleren Beoachtungsdaten in Einklang zu bringen. Wit wissenschaftlicher Wahrheit hat das freilich nichts mehr zu tun!
    Aus diesem Blickwinkel kann ich es nur begrüßen, wenn jemand den Mut aufbringt den bestehenden Filz erkenntnistheoretischer und wissenschaftlicher Hybris aufzumischen. Dass dies auf derart ungeschickte weise geschehen ist wie bei Frau Mitchell ist bedauerlich. Es ist jedoch ein Anfang!