Dies ist eine Besprechung des Buches Breaking the Spell: Religion as a Natural Phenomenon/Den Bann brechen: Religion als natürliches Phänomen von Daniel Dennett. Die Einleitung und Übersicht dazu findet ihr hier.

Im ersten Teil öffnet Dennett die Büchse der Pandora, und fragt im ersten Kapitel: Welcher Bann soll denn nun eigentlich gebrochen werden?

Worum soll es denn eigentlich gehen? Dennett erzählt von einem Parasiten, der Ameisenhirne befällt und diese dazu verleitet, Grashalme zu erklimmen und sich von Vögeln Schafen fressen zu lassen – das hilft dem Parasit, nicht der Ameise. Eine Idee ist kein lebendes Ding, aber auch ein Parasit sei nicht gerade ein “Rocket Scientist”. Menschen sind oft für verschiedene Ideen gestorben – für religiöse aber auch für säkulare wie Demokratie. Es sei beunruhigend, religiöse Ideen mit einem lebenden Tier zu vergleichen, aber auch in der Bibel finden sich solche Vergleiche, vom Samen der das Wort Gottes ist und in die Menschen eingepflanzt wird. Dennett fragt, wie der Verstand Ideen erzeugt. Wie entstehen sie, wie pflanzen sie sich fort, wie entstehen ihre Hüter, die die Idee einer Idee propagieren? Dennett redet hier eindeutig vom Mem-Konzept von Richard Dawkins, ohne das Wort zu gebrauchen. Und er verarbeitet auch die Idee von Religion als memetischer Parasit, ohne sie auszuführen. Denn er möchte in seinem Buch Religion als natürliches Phänomen erarbeiten. Er schreibt:

An account of the origins of religion, in the next seven chapters, will provide us with a new perspective from which to look, in the last three chapters , at what religion is today, why it means so much to so many people, and what they might be right and wrong about in their self-understanding as religious people. Then we can see better where religion might be heading in the near future, out future on this planet. I can think of no more important topic to investigate.

Dennett versucht eine Definition von Religion zu finden. Er weist auf die Probleme damit hin, eine Linie zu ziehen, da man immer Aspekte finden kann die dann eventuell außerhalb liegen; aber auch weil es verwandte Phänomene gibt (Aberglaube, fanatische Anhängerschaft zu einem Sport), die vieles teilen mit einer möglichen Definitionsweise.
Schließlich definiert er es als “soziale Systeme, deren Teilnehmer Glauben an eine übernatürliche wirkende Kraft bekennen oder an eine wirkende Kraft, deren Zustimmung sie suchen.” (meine Übersetzung). Er weist gleich darauf hin, dass diese Definition ein wenig ein Kreisschluss ist. Aber ich denke, so drückt er ziemlich gut aus was Religion ausmacht und grenzt sich durch das Festlegen auf eine wirkende Kraft gut von verwandten Phänomenen ab. Es geht auch nichts verloren, wenn man folgende Ideen auf verwandte Phänomene überträgt, wo es passt. Vor allem umfasse die Definition als “wirkende Kraft” zwar anthropomorphische Götter, begrenzt sich aber nicht darauf, sondern zeigt gleich noch Widersprüche auf – wie dass man aktiv einen angeblich allwissenden Gott anrufen muss. Außerdem umfasse die Definition die Bedingung einer Gruppe von Gläubigen. Das wird auch wichtig dafür, Religion als Idee und natürliches, sich verbreitendes Phänomen aufzudröseln.
Klare Worte hat er für die Frage, ob man denn nun “den Bann brechen sollte”:

It is high time that we subject religion as a global phenomen to the most intensive multidisciplinary research we can muster, calling on the best minds on the planet. Why? Because religion is too important for us to remain ignorant about.

Und das ist auch schon der Kern des Buches, damit ist eigentlich alles gesagt. Wir wisse nicht was passiert wenn wir den Bann der Religion anfassen. Daher: Untersucht endlich Religion! sagt Dennett und im Folgenden filetiert er eigentlich nur noch die Stücke vor.
Und so gibt es zwei Banne: Das Tabu, Religion nicht anzufassen. Offensichtlich bricht Dennett das, aber als Philosoph sieht sich Dennett nicht in der Position, den zweiten Bann anzugehen: Den Bann der Religion zu brechen. Er möchte eigentlich nur vorschlagen, sich das doch einmal anzusehen. Ich denke, er will sich stark bemühen alle möglichen Leser anzusprechen und betont das auch. Als “neue Atheist” will er diesen Bann wohl brechen, aber vorsichtig vorgehen und vor allem die vielen Teile, die da zusammenkommen vorzeigen und einzeln zur Untersuchung stellen. Sein Pfad sei der zu verstehen, ob Religion ein natürliches Phänomen ist und was man darüber herausfinden kann, was es den Leuten bringt. Er sehnt sich quasi nach Fakten, welch wunderbare Sehnsucht für einen Philosophen!


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Kommentare (25)

  1. #1 Tim
    03/27/2010

    Dennett in allen Ehren, aber ich empfinde immer Scham für die Menschheit, wenn wir uns auch im 21. Jahrhundert noch mit solchen Phänomenen beschäftigen müssen. Das Konzept des modernen Gottes (als Fortentwicklung der uralten Vorstellung von Fruchtbarkeitsgöttinnen etc.) ist ja noch nicht sehr alt, aber ein paar tausend Jahre plagt es uns ja sicher schon. Wie lange wohl noch?

    Welchen zivilisatorischen Stand hätten wir heute, wenn das Christentum ab dem 3./4. Jahrhundert nicht den Großteil der antiken Bildung vernichtet hätte!

    Es ist alles so furchtbar peinlich …

  2. #2 Stefan W.
    03/27/2010

    Ist das eigentlich wirklich eine These, von der man ausgehen kann, daß die Religion so wichtig sei, für die Menschen? Viele behaupten das wohl, aber was wäre ein Beweis?

    Daß manche Leute für ihre Religion zu sterben bereit sind? Pardon, aber zu hunderttausenden ziehen junge Männer in Kriege, und wissen nicht recht wofür. Andere riskieren ihr Leben bei riskanten Sportarten, und gestorben wird immer sowieso.

    Und getreu dem Motto cujus regio, ejus religio (wem das Land, dess Religion) und “Wes Brot ich eß, des Lied ich sing” sieht man, daß religiöse Inhalte getauscht werden, wie die Moden.

    Vorgestern Christ, gestern Nazi, heute Sozialist, morgen Demokrat. Von ganzem Herzen, jeweils.

    Oder man bleibt – getreu der Familientradition – zwar der Kirche treu, aber der Inhalt unter der Überschrift ‘Christ’ ändert sich radikal. Lange Zeit heißt es in erster Linie fromm sein, dann heißt es gehorsam gegenüber Eltern und Kaiser, dann liegt der Schwerpunkt auf Mitmenschlichkeit und Gerechtigkeit, und so paßt es sich dem Zeitgeist an. Während die einen noch glauben, daß Gott nicht will, daß die Menschen schwul sind, glauben die anderen, daß dieser nämliche Gott nicht möchte, daß die Homosexuellen benachteiligt werden.

    Religion ist – auch wenn sie das Gegenteil von sich behauptet – ein oberflächliches Getue, da ist nix dahinter, ein Hokuspokus, und wenn es drauf ankommt verhalten sich religiöse Menschen so wie die einer anderen Religion, oder wie areligiöse. Zumeist.

    Es gibt auch neurotische, zwanghaft Religiöse, aber auch bei Nichtreligiösen gibt es zwanghafte Neurotiker.

  3. #3 Thilo Kuessner
    03/28/2010

    Klare Worte hat er für die Frage, ob man denn nun “den Bann brechen sollte”

    Im Zusammenhang mit ‘Religion’ (als wissenschaftlichem Thema) von einem “Bann” zu reden, zeugt jedenfalls von wenig Kenntnis der (Geistes-)Wissenschaft der letzten 150 Jahre.

    Ich meine: es gab Feuerbach, es gab Nietzsche, es gab Schopenhauer, es gab Marx, es gab Freud, und noch 1000 andere Philosophen oder Psychologen, die sich mit dem Thema kritisch befaßt haben. Wo gibt es dort einen “Bann”, der die Beschäftigung mit dem Thema behindert? (Daß die Philosophen, vielleicht mit Ausnahme von Marx, nie von der breiten Masse der Bevölkerung zur Kenntnis genommen wurden, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Es gibt sicher viele katholische Dörfer, in denen noch niemand Feuerbach oder Schopenhauer gelesen hat – es ist aber absurd, zu behaupten, daß es solche Denkverbote in der Wissenschaft gegeben hätte.)

    Was Dawkins, Dennett & Co von den religionskritischen Philosophen der letzten 150 Jahre unterscheidet ist m.E. nicht die kritische Einstellung zur Religion (da findet man bei Nietzsche oder Freud bestimmt deutlichere Worte). sondern der naturwissenschaftliche Zugang zur Erklärung von Ideen und Denkprozessen. Aber da sind ihre Thesen, wenn ich es richtig verstehe, ja wohl auch ihrer eigenen Meinung nach spekulativ. Natürlich ist es grundsätzlich klar, daß Denkprozesse biologischer Natur sind und sich irgendwann auch biologisch erklären lassen werden. Davon ist man heute aber offensichtlich sehr weit entfernt. Insofern erinnern mich die (heutigen) Thesen darüber, wie Ideen durch die Biologie determiniert werden, doch ein wenig an die Erklärung von Naturphänomen in der Bibel oder anderen alten Texten: damals fehlten die physikalischen Voraussetzungen zur Erklärung naturwissenschaftlicher Phänomene, weshalb man sich (mehr oder weniger) plausible Theorien dafür zurechtlegte, heute fehlen die biologischen Voraussetzungen zum Verständnis von Denkprozessen, weshalb sich Philosophen eben ihre eigenen Theorien bilden. Das haben die Philosophen schon immer gemacht, neu ist jetzt allenfalls die stärkere Betonung der Biologie, freilich beim heutigen Erkenntnisstand auf einer spekulativen Basis. Die Thesen zu Memetik etc. sind philosophische Thesen, die man teilen kann oder nicht, evidenzbasierte Wissenschaft ist das sicher (noch) nicht. Der Unterschied zu den Thesen Schopenhauers oder Nietzsches ist lediglich, daß Dawkins’ Metaphern mit einem naturwissenschaftlichen Geltungsanspruch vorgebracht werden – das (und nicht die Religionskritik) ist das neue, “bann”-brechende, würde ich sagen.

  4. #4 Andrea N.D.
    03/28/2010

    @Thilo:
    “Der Unterschied zu den Thesen Schopenhauers oder Nietzsches ist lediglich, daß Dawkins’ Metaphern mit einem naturwissenschaftlichen Geltungsanspruch vorgebracht werden – das (und nicht die Religionskritik) ist das neue, “bann”-brechende, würde ich sagen.”
    Und Feuerbach?
    “… dass das Christenum längst nicht nur aus der Vernunft, sondern auch aus dem Leben der Menschheit verschwunden, dass es nichts weiter mehr ist als eine fixe Idee, welche mit unseren Feuer- udn Lebensversicherungs-Anstalten, unseren Eisenbahn- und Dampfwägen, unseren Pinakotheken und Glypotheken, unseren Kriegs- udn Gewerbeschulen, unseren Theatern und Naturalienkabinetten im schreiendsten Widerspruch steht.”
    Ich würde das schon als “naturwissenschaftlichen” Geltungsanspruch interpretieren.
    Ich hätte Dawkins eher mehr der Biologie zugeordnet (die These vom egoistischen Gen halte ich für durchaus angreifbar) und Dennett eher der Naturwissenschaft (allerdings habe ich das vorgestellte Buch noch nicht gelesen). Ansonsten stimme ich Dir gerne zu; es ist faszinierend, wie immer wieder “Wissen” verloren geht und neu “entdeckt” wird.

  5. #5 Marcus Anhäuser
    03/28/2010

    kurzer Faktencheck: Ameise, die sich vom Vogel fressen lässt? War das nicht ein Schaf, dass die Ameise frisst?

  6. #6 Jörg
    03/28/2010

    @Marcus: Stimmt, Schafe waren es bei dem Ameisenparasiten. Aber ich glaube es gibt auch noch andere Arten von Parasiten, ich hab die verwechselt.

  7. #7 BreitSide
    03/28/2010

    Wenn ich mich richtig erinnere, waren es Schnecken, die von Vögeln gefressen werden sollten? Zumindestens deren Fühler, die dick, grell und pulsierend werden. Und ich glaube, die Schnecken klettern dann auch Halme hinauf. Oder ist das sogar ein “Doppelkreislauf” Ameise-Schaf-Schnecke-Vogel-Ameise? Muss mal weiter schauen.

  8. #8 Thilo Kuessner
    03/28/2010

    Wenn es sich sowieso nur um eine Metapher handelt, kommt es ja eigentlich nicht so genau drauf an 🙂

    Falls es Marcus trotzdem genau wissen will, kann er hier nachlesen: https://www.sueddeutsche.de/wissen/515/326379/text/

  9. #9 BreitSide
    03/28/2010

    Interessanter Autor…;.)))

  10. #10 Thilo Kuessner
    03/28/2010

    Hoffentlich krieg ich jetzt keinen Eintrag bei Claus Fritzsche wg. Schleichwerbung für einen Esowatch-Verlinker.

  11. #11 Sim
    03/29/2010

    @ Thilo

    Man muss auch sehen, dass Dennett das ganze aus der amerikanischen Perspektive betrachtet. So schreibt er gleich am Anfang in seinem Vorwort, der deutschen Ausgabe, dieses Buches:

    “Lassen Sie mich mit einer offenkundigen Tatsache beginnen: Ich bin ein amerikanischer Autor, und dieses Buch richtet sich in erster Linie an amerikanische Leser. Ich habe vielen Leuten Entwürfe zu diesem Buch vorgelegt, und die meisten meiner nichtamerikanischen Leser fanden diese Tatsache nicht nur offenkundig, sondern auch irritierend – bisweilen sogar unangenehm.
    Hätte ich dem Buch nicht einen weniger provinziellen Anstrich geben können? Sollte ich als Philosoph nicht mit allen Mitteln versuchen, ein möglichst universelles Publikum zu erreichen? Nein. Nicht in diesem Fall, und meine nichtamerikanischen Leser mögen bedenken, was sie aus dem vorliegenden Buch über die Lage in Amerika lernen können. Wichtiger als die Reaktion meiner nichtamerikanischen Leser war für mich die Tatsache, dass nur wenige meiner amerikanischen Leser diese Einseitigkeit überhaupt bemerkten – oder sich, wenn sie es denn taten, nicht daran störten”

    Weiter schreibt er dass er nicht für die wissenschaftlichen Eliten schreibt, bei denen er offene Türen einrennen würde, sondern sich an einen breiteren Leserkreis richtet.

    In weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung gibt es nämlichen sehr wohl noch diesen Bann zu brechen, Religion als natürliches Phänomen zu begreifen. Denn natürlich kennt Dennett Nietzsche, Feuerbach, Spinoza oder Schopenhauer bzw. ihre Thesen. Der Mann ist ein verdammter Professor für Philosophie!

  12. #12 Koz
    03/30/2010

    @Jörg

    “Dennett redet hier eindeutig vom Mem-Konzept von Richard Dawkins, ohne das Wort zu gebrauchen”

    Ich gehe jezt mal davon aus dass sie damit meinen, Dennett erwähnt das Mem-Prinzip nicht im ersten Teil. Er nimmt an mehreren Stellen ausführlich bezug auf Dawkins und das Mem-Prinzip, sowie auf dessen Kritiker (Sperber, Atran, Boyer z.B.) – Darüber hinaus ist dem Mem ein kompletter Appendix (C) gewittmet.

    @Thilo Kuessner

    “Im Zusammenhang mit ‘Religion’ (als wissenschaftlichem Thema) von einem “Bann” zu reden, zeugt jedenfalls von wenig Kenntnis der (Geistes-)Wissenschaft der letzten 150 Jahre”

    Hier liegt der Hund wohl in der Übersetztung begraben, “Spell” kann man mit Bann übersetzten, dadurch verliert man jedoch komplette Bedeutungszusammenhänge, die man so mit einem Wort in der deutschen Sprache nicht nachahmen kann. Leztendlich handelt es sich beim Titel um ein Wortspiel zwischen den verschiedenen Deutungsformen von “Spell”

    https://www.merriam-webster.com/dictionary/spell

    “Ich meine: es gab Feuerbach, es gab Nietzsche, es gab Schopenhauer, es gab Marx, es gab Freud, und noch 1000 andere Philosophen oder Psychologen, die sich mit dem Thema kritisch befaßt haben. Wo gibt es dort einen “Bann”, der die Beschäftigung mit dem Thema behindert?”

    Und alle diese Herrschaften werden auch von Dennett erwähnt. Es geht übrigens nicht um die “Beschäftigung mit” sondern um “Wissenschaftliche Untersuchung von” Religionen. Mit allem was zu einer Wissenschaftlichen Untersuchung gehört, wie z.B. Doppelblindstudien und Peerreviwing. Das werden Sie bei den von ihnen angeführten Denkern nicht finden.

    @Thilo

    “So schreibt er gleich am Anfang in seinem Vorwort, der deutschen Ausgabe, dieses Buches[…]”

    Das Vorwort ist in allen Ausgaben gleich, das ist nicht exclusiv für nicht amerikanische Leser gemeint.

    @Marcus Anhäuser
    @Jörg
    @Bretside

    Ihr habt alle Recht. Das erste Beispiel ist jedoch Dicrocelium dendriticum, der Ameisenparasit der irgendwie in einen Schafsdarm muss um sich fortzupflanzen.
    Ein weiteres Beispiel ist Toxoplasma gondii, ein Parasit der Ratten “die Angst vor Katzen” nimmt, da er irgendwie in die Katze gelangen muss.

  13. #13 Thilo Kuessner
    03/30/2010

    Mit allem was zu einer Wissenschaftlichen Untersuchung gehört, wie z.B. Doppelblindstudien und Peerreviewing. Das werden Sie bei den von ihnen angeführten Denkern nicht finden.

    Das war genau der Punkt, um den es mir ging: hier wird systematisch der Eindruck erweckt, es handele sich um Untersuchungen mit der üblichen naturwissenschaftlichen Methodik und nicht einfach nur um Philosophie. Die Frage ist aber eben, ob die philosophischen Schlußfolgerungen wirklich von den (bis heute) naturwissenschaftlich bewiesenen Tatsachen gedeckt werden oder ob es sich nicht eher um Spekulationen auf einer doch recht spärlichen Basis gesicherter Fakten handelt.

    Also, um es auf den Punkt zu bringen, als Frage an die Fachleute: welche Thesen von Dawkins & Dennett können als gesicherte Fakten angesehen werden, für welche gibt es einigermaßen starke Evidenz, welche sind aufgrund der vorliegenden Daten zumindest plausibel, welche werden nur von einigen sehr speziellen bewiesenen Fakten gedeckt und gelten im allgemeinen eher als umstritten, welche Thesen sind einfach nur Analogieschlüsse oder reine Spekulation?

    Das, mal im einzelnen von einem Biologen aufgeschlüsselt, wäre eine interessante Ergänzung zu dieser Reihe.

  14. #14 georg
    03/30/2010

    @Thilo Kuessner
    Bin zwar kein Biologe, für den Beginn hätte ich da schon mal ein paar Thesen von Dawkins:

    – Die Evolution des Lebens erfolgt auf natürliche Weise (ohne übernatürliche Wesen)

    – Für die Entwicklung von (menschlicher) Moral und Ethik gilt dasselbe

    – Die Entwicklung des Universums erfolgt auf natürliche Weise (ohne übernatürliche Wesen)

    mfg georg

  15. #15 koz
    03/30/2010

    @Thilo Kuessner

    “Das war genau der Punkt, um den es mir ging: hier wird systematisch der Eindruck erweckt, es handele sich um Untersuchungen mit der üblichen naturwissenschaftlichen Methodik und nicht einfach nur um Philosophie”

    Sie haben, glaube ich, das Motiv des Buches nicht verstanden. Es will nicht die These von Religion als natürliches Phänomen belgen, es ist ein Plädoyer dafür dass eine wissenschaftliche Untersuchung dieses Bereiches notwendig und überfällig ist.

  16. #16 Thilo Kuessner
    03/30/2010

    Das sagt Michael Blume auch immer. Es beantwortet aber nicht meine Frage: welche Thesen können als gesicherte Fakten angesehen werden, für welche gibt es einigermaßen starke Evidenz, welche sind aufgrund der vorliegenden Daten zumindest plausibel, welche werden nur von einigen sehr speziellen bewiesenen Fakten gedeckt und gelten im allgemeinen eher als umstritten, welche Thesen sind einfach nur Analogieschlüsse oder reine Spekulation?

    Das, mal im einzelnen von einem Biologen aufgeschlüsselt, wäre eine interessante Ergänzung zu dieser Reihe.

    Die Frage ist nicht, ob man versuchen darf, Philosophien, Weltanschauungen, Verhaltensweisen biologisch zu erklären. Natürlich darf man es versuchen und mir ist auch nicht bekannt, daß es in der Hinsicht bisher irgendwelche Denkverbote gegeben hätte. (Es kommt doch jede 2. Woche ein Buch raus, in dem genetisch begründet wird, warum Frauen nicht einparken könnten etc.pp.)

    Aber man darf dann eben auch die Frage stellen, ob die Ergebnisse solcher Forschungen genauso zuverlässig sind wie z.B. Doppeltblind-Studien in der Medizin, oder ob es sich nicht eher wie bei anderen Philosophen um mehr oder weniger plausible Thesen und Erklärungsversuche handelt.

    Es geht, um auch georgs Mißverständnis noch aufzuklären, nicht darum, ob menschliche Verhaltensweisen auf natürliche Weise entstanden sind (natürlich sind sie das), sondern ob man Erklärungsversuche von Biologen dazu (nicht in 200 Jahren, sondern beim heutigen Stand der Wissenschaft) als genauso gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse ansehen will wie Physik, Chemie oder klassische Genetik.

  17. #17 koz
    03/30/2010

    @Thilo

    “Das sagt Michael Blume auch immer”

    Meinen Sie diesen Hr.Blume? (Scheint mir im Kontext am plausibelsten)

    https://religionswissenschaft.twoday.net/

    Den kannte ich bis jezt garnicht.

    “Es beantwortet aber nicht meine Frage: welche Thesen können als gesicherte Fakten angesehen werden, für welche gibt es einigermaßen starke Evidenz, welche sind aufgrund der vorliegenden Daten zumindest plausibel, welche werden nur von einigen sehr speziellen bewiesenen Fakten gedeckt und gelten im allgemeinen eher als umstritten, welche Thesen sind einfach nur Analogieschlüsse oder reine Spekulation?”

    Dennet führt sehr ausführliche Fußnoten zu allen Publikationen die von ihm in “Breaking the Spell” besprochen oder auch nur erwähnt werden. Auch die vier Appendix am Ende des Buches gehen auf einige Bereiche detailierter ein und liefern weitere Lektüreempfehlungen. Vielleicht hilft ihnen das weiter, lesen müssen sie die Wälzer allerdings selber (inklusive ihrer Gegendarstellungen).
    Ansonsten lautet die Antwort auf ihre Frage leider: 42.

  18. #18 Thilo Kuessner
    03/30/2010

    lesen müssen sie die Wälzer allerdings selber

    Tja, immer wenn es konkret werden soll, kommen ausweichende Antworten. Ein paar prägnante Beispiele sollten sich doch eigentlich anführen lassen, um das Buch schmackhaft zu machen.

    Was ist denn z.B. mit den Frauen, die genetisch bedingt nicht einparken können? (Das ist vielleicht einfacher als Philosophie und Religion zu untersuchen.) Ist das jetzt eine wissenschaftlich gesicherte These oder zumindest plausibel oder umstritten oder reine Spekulation?

    Oder abstrakt gefragt: wie aussagekräftig sind solche biologischen Verhaltens-Theorien? Handelt es sich um evidenzbasierte Wissenschaft (so wie die Erklärung von Krankheiten durch Bakterien) oder eher um Erklärungen, die man glauben kann oder auch nicht?

  19. #19 koz
    03/30/2010

    @Thilo

    “Tja, immer wenn es konkret werden soll, kommen ausweichende Antworten. Ein paar prägnante Beispiele sollten sich doch eigentlich anführen lassen, um das Buch schmackhaft zu machen”

    Tja, es lässt sich eben nicht Alles, wie in der Mathematik, auf eine Formel reduzieren.
    Wenn Sie wissen wollen, ob was an der Behauptung “Frauen können genetisch bedingt nicht einparken” dran ist, suchen sie sich die entsprechende Studie doch heraus und bewerten Sie selbst ob wissenschaftliche Kriterien ausreichend beachtet worden sind, oder Fragen Sie einen Biologen ihres Vertrauens.

    Ich verlange beispielsweise ja auch nicht von ihnen mir mal eben in zwei Zeilen die Satz von Cantor zu erklären.

    “Oder abstrakt gefragt: wie aussagekräftig sind solche biologischen Verhaltens-
    Theorien? ”

    Ein ganz nettes Beispiel ist z.B. der Wikipediaartikel zu “Altruismus”

    https://de.wikipedia.org/wiki/Altruismus

    Aber auch den müssen Sie leider selbst lesen…

  20. #20 Thilo Kuessner
    03/30/2010

    Ich interpretiere das jetzt mal so, daß man diese biologischen Verhaltens-Erklärungen also nicht so mit richtig/falsch bewerten kann, wie man das von evidenz-basierter Biologie (z.B. der Erklärung von Krankheiten durch Bakterien) kennt.

    Korrekt?

  21. #21 koz
    03/30/2010

    @Thilo Kuessner

    Ich bin auf dem Gebiet auch kein Experte, ich weiss auch nur das, was ich mir angelesen habe.
    Deshalb muss ich leider mit Jein antworten. Es gibt zahlreiche Experimente in dem Gebiet – Es können Vorraussagungen über Verhalten gemacht werden die sich (statistisch) auch erfüllen. Beispiel wäre hier das weit bekannte “Milgram – Experiment”:

    https://en.wikipedia.org/wiki/Milgram_experiment

    welches auch kürzlich wieder erfolgreich von einem französischen TV-Sender nachgestellt wurde:

    https://www.sueddeutsche.de/medien/78/506260/text/

    Sie als Mathematiker sind ja sicherlich (besser als ich) mit der Spieltheorie vertraut – auch diese ist Grundlage für viele Verhaltensbiologische Forschungen.

    Natürlich sind solche Phänomene auch teils stark Kulturspezifisch. Dennett führt in BtS beispielsweise auch Erfahrungen von Anthropologen, die über längere Zeiträume mit isolierten, indogenen Stammesgesellschaften zusammen gelebt haben, an. Die Erfahrungen hierbei zeigen dann mitunter von der “evidenzbasierenden” Verhaltensbiolgie stark abweichende Ergebnisse.

    Ein weites Feld, wie der alte Briest sagen würde…

  22. #22 Thilo Kuessner
    03/31/2010

    Über Spieltheorie in der Biologie habe ich als Student mal ein Seminar mitgemacht. Ist schon eine Weile her, jedenfalls hatte ich nicht den Eindruck, daß man dort etwas berechnete, was sich dann 1:1 so in der Wirklichkeit beobachten läßt. Es ging, soweit ich mich erinnern kann, z.B. um Populationsdynamik Falken-Tauben, und es kamen nie konkrete Zahlen vor, die man hätte nachprüfen können.

    (Die Spieltheorie war ja in den 50er Jahren sehr ‘in’, weil man glaubte, damit bald wirtschaftliche und politische Prozesse wissenschaftlich verstehen zu können. Das glaubt man, soviel kann man wohl sagen, in dieser Form schon lange nicht mehr. Jedenfalls habe ich noch nicht gehört, daß Gewerkschaften oder Arbeitgeber vor Tarif-Verhandlungen einen Spieltheoretiker befragen, der die Nash-Gleichgewichte ausrechnet.)

    Natürlich entwickeln Mathematiker auch sonst ständig Theorien, die sich nicht 1:1 auf die Wirklichkeit übertragen lassen. Aber man sollte dann eben auch nicht behaupten, daß man mit seinen Modellen die Wirklichkeit erklären und berechnen kann. (Sonst befördert man letztlich nur das ohnehin vorhandene Mißtrauen in die Wissenschaft, was dann auch die Gebiete trifft, wo Erkenntnisse schon zuverlässig sind. Wie soll ein Laie spekulative Modelle von bewiesenen Theorien auseinanderhalten, wenn diese Unterscheidung nicht von den Experten selbst in der Öffentlichkeit vermittelt wird?)

  23. #23 georg
    03/31/2010

    @Thilo Kuessner

    Aber man sollte dann eben auch nicht behaupten, daß man mit seinen Modellen die Wirklichkeit erklären und berechnen kann. (Sonst befördert man letztlich nur das ohnehin vorhandene Mißtrauen in die Wissenschaft, …

    Dawkins und Dennet unterscheiden in ihren Formulierungen sehr sorgfältig, zwischen dem, was einigermaßen gesichertes Wissen ist, und dem was noch Spekulation ist.

    Ich kann Dir versichern, dass Deine Sorge diesbezüglich völlig unbegründet ist.

    mfg georg

  24. #24 koz
    03/31/2010

    @Thilo

    Hier mal in Dennets eigenen Worten in BtS:

    “My description of the evolution of various features of religion in chapters 4-8 is definitely “just a theory” -or, rather, a family of proto-theories, in need of further development. In a nutshell, this is what it says: Religion evolved. but it doesn’t have to be good for us in order to evolve.”

    -Daniel C. Dennet:Breaking the Spell 2006, p.309

  25. #25 Thilo Kuessner
    03/31/2010

    Bleibt zu hoffen, daß diese Unterscheidung dann auch bei der Presse und vor allem beim Publikum so ankommt.

    (Es ging mir auch gar nicht speziell um das Religionsthema, jedenfalls nicht nur, sondern allgemein um die vielen Möchtegern-Wissenschaftler, die auf dieser Welle mitschwimmen und mit irgendwelchen “ausgesuchten” Studien und biologisch-klingenden Argumenten beweisen wollen, daß Frauen weniger räumliches Denken, Schwarze weniger Intelligenz, Atheisten weniger Kinder oder Mathematiker weniger Haare haben.)