Picasso und Einstein haben beide zur selben Zeit umwerfende konzeptionelle und ästhetische Durchbrüche in ihren Disziplinen erdacht und ausgelöst. Aber das ist kein Zufall, denn sie wurden beide von zeitgenössischen mathematischen Vordenkern inspiriert! Dazu hat Arthur I. Miller diese Woche einen sehr interessanten Vortrag am CERN gehalten, den man sich glücklicherweise online in einem ziemlich guten System ansehen kann. Die 50 Minuten sollte man sich Zeit nehmen (und ich werde mir auch das Buch dazu anschauen), denn ich war doch verblüfft über den Zusammenhang zwischen den Inspirationen, und auch der Ähnlichkeit in den Änderungen die sie in das Denken gebracht haben.

Zentrales Bild des Vortrages war Les Demoiselles d’Avignon, das ich leider wegen Copyright nicht einbinden kann. In den USA könnte ich es, aber in Europa trumpft Geldgier leider Kunst und Kultur. Ich bin sicher, die USA arbeiten dran, das können die sich ja nicht gefallen lassen. Jedenfalls solltet ihr euch das Bild hier ansehen. Für das Bild von 1907 schöpfte Picasso aus seinem Erfahrungsschatz, und stellt fünf Damen in einem Bordell dar. Er kämpfte jedoch lange mit dem Bild, und es ist offensichtlich dass er auf der Suche nach einem Durchbruch im Ausdruck war, der sich aus hunderten Zeichnungen nachverfolgen lässt, der sich aber im Bild wiederfindet.
Einstein hatte seinerseits natürlich 1905 sein Wunderjahr, in dem er drei welterschütternde Paper veröffentlichte. Das dritte, “Zur Elektrodynamik bewegter Körper”, leitete die Spezielle Relativitätstheorie ein. Ein entscheidendes Gedankenbild darin ist die Erzeugung eines Magnetfeldes durch eine drehende Spule. Einstein fand es nicht hinnehmbar, dass ein Beobachter, der sich mit der Spule drehte, etwas anderes sehen sollte als der, der ruhend daneben stand; obwohl es der gleiche Effekt war. Das markiert den entscheidenden Durchbruch im Denken: Einstein stellte Konzeption über Wahrnehmung und fand darin den Schlüssel zum Universum. Es entstand daraus ein Umbruch in der zeitlichen Synchronität: Die hängt nämlich vom Bezugssystem des Beobachters ab. Und später stellte dann Minkowski das vierdimensionale mathematische Rahmenwerk zur Verfügung, um leichter mit der neuen Vorstellung von Raum und Zeit als Raumzeit umgehen zu können.

Einstein und Picasso verband, dass sie sich gerne in Freundesgruppen trafen und über Mathematik und Wissenschaft diskutierten. Ja, auch Künstler taten das damals. Wie Arthur Miller am Ende des Vortrages beklagt, ist dieser Umstand, der kritisch für das Entstehen des Kubismus war, lange untergegangen in der Kunstgeschichte. Die meisten Kunsthistoriker seien im Postmodernismus erstickt (ist auch eine üble Krake…) und diskutierten lieber ob Picasso Anarchist oder Kommunist war. Beide Gruppen jedenfalls studierten z.B. Werke von Poincare, und Picasso war fasziniert von Diskussionen und Büchern zur Projektion von vier Dimensionen auf zwei. Solche Abbildungen veränderten seine Ausdrucksweise hin zu geometrischeren Formen als Element. Er experimentierte auch mit Photographie, und zu dieser Zeit übte man sich beispielsweise darin, Bewegungsserien in Mehrfachbelichtungen abzubilden.

Les Demoiselles d’Avignon kondensiert die Umbrüche in Picassos Denken: Es ist wie eine Abbildung räumlicher Synchronität, in der die Damen von links nach rechts immer geometrischer werden, bis hin zu der rechts hockenden Dame, deren Kopf unnatürlich aus dem Profil frontal dem Beobachter zugewendet ist. Bis dahin war Aufgabe des Malers, Räume, Gegenstände und Menschen möglichst genau abzubilden. Die radikale neue Ideen von Picasso war, stattdessen mit Hilfe der geometrischen Formen zu projizieren, was er darstellen möchte. Die Art der Darstellung war das Bild, und die geometrischen Formen waren das Werkzeug. Auch Picasso hatte Konzeption über Wahrnehmung gestellt und damit die Kunstwelt auf den Kopf gestellt, und den Kubismus eingeläutet.

Kunst und Wissenschaft sind nicht so verschieden im Denken. Neues entdecken ist ein grundsätzlich kreativer Vorgang, der erst einmal sehr genau die bestehenden Muster finden und nachvollziehen muss. Und dann, wenn man weiß wie die Kiste aussieht, kann man versuchen “out of the box” zu denken; dazu braucht man eine Inspiration. Bach und Newton mögen religiös inspiriert worden sein; Einstein und Picasso (und auch etwa Kandinsky, Malevich, Mondrian) wurden es durch mathematische und technische Vorleistungen, die die Zeit für neues Denken reif machten. Aber ihr Genie lag darin, andere Ideen ernst zu nehmen, zu übertragen, und dann radikale schmerzhafte neue Gedanken durchzuziehen ohne daran zu zerbrechen.

Übrigens, CERN hat gerade ein neues Programm bekannt gegeben und wird ab sofort einen “artist in residency” haben, also einen Künstler vor Ort am CERN aufnehmen und unterstützen. Bis Ende Oktober läuft die Bewerbungsfrist, danach wird man das Programm hier verfolgen können.



Kommentare (3)

  1. #1 JPeelen
    10/07/2011

    Kunsthistoriker haben wohl in den seltensten Fällen auch nur das geringste Interesse an Mathematik. Folglich bleibt auch Picassos Verhältnis zur Mathematik (das mich sehr erstaunt) kunstwissenschaftlich praktisch unbeachtet.
    Die Technikgeschichte leidet an demselben Effekt, weil auch Historiker üblicherweise keinerlei Verhältnis zu Technik oder Naturwissenschaften haben.

  2. #2 michael
    10/07/2011

    @Jörg
    >Werke von Pointcare
    könntest Du das ‘t’ in ‘Pointcare’ entfernen ?

  3. #3 KommentarAbo
    10/08/2011