In den 1880ern hat der Deutsche Evolutionsbiologe August Weismann Mäusen die Schwänze abgeschnitten. Das tat er nicht nur bei ihnen, sondern auch bei ihren Kindern. Und Kindeskindern. Und Kindeskinder Kindern.
Der Mann war offenbar sehr geduldig und kein großer Mäuse Fan. Er wollte herausfinden, wie Vererbung funktioniert. Werden erworbene Eigenschaften an die Nachfahren weitergegeben? Kommt die Giraffe deshalb mit so einem langen Hals zur Welt weil Mama und Papa Giraffe immer den Hals nach Blättern strecken mussten? Sind die Hintern von Pavianen deshalb so rot weil ihre Eltern zu oft übers Bein gelegt wurden? Wenn das der Fall ist, müssten die Nachkommen der gestutzten Mäuse ebenfalls mit kürzeren Schwänzen zur Welt kommen. Weißmann führte sein Experiment geduldig über mehrere Mäusegenerationen durch. Bis er darauf hingewiesen wurde, dass es religiöse Strömungen gibt, die ein ähnliches Experiment schon viel länger am Menschen durchführen. Und bis jetzt ist noch jeder Mensch mit einer Vorhaut auf die Welt gekommen.
Dank Charles Darwin wissen wir heute wie Evolution funktioniert. Mutation bringt zufällige Varianten von Erbgut hervor. Die Nachteilhaften werden dann vom Überlebenskampf ausgefiltert. Mutation und Selektion also. Darwin kam zu dieser Erkenntnis lange bevor man etwas über Gene wusste. Er sprach deshalb nicht von Mutation sondern Variation. Man konnte lediglich spekulieren, auf welcher Ebene diese Variation stattfand.
Sein älterer Zeitgenosse Jean-Baptiste de Lamarck stellte bereits vor Darwins Geburt die Theorie der Veränderlichkeit von Arten auf. Allerdings hatte er eine andere Erklärung dafür, wie neue Eigenschaften entstehen. Laut ihm gibt man Eigenschaften, die man Zeit seines Lebens erworben hat, an die Nachkommen weiter. Nicht umsonst werden die Kinder von Bäckern häufig Bäcker und die Kinder von Schmieden häufig Schmied. Heute scheint der Streit Darwin vs. Lamarck geschlichtet zu sein. Der Mechanismus der Vererbung ist geklärt. 1:0 für Darwin. Und doch gibt es ein Phänomen, das Lamarck ein schadenfrohes „Ich habs doch gesagt“ Lächeln auf die Lippen gezaubert hätte:
Epigenetik
Wenn wir an Erbinformation denken, haben wir meistens vier Buchstaben im Kopf, die unseren Bauplan festlegen – A,T,G,C. Sie bestimmen die Struktur und Regulation der Proteine, die unseren Körper aufbauen. Wann und wo diese Proteine erzeugt werden ist allerdings noch auf einer weiteren Ebene reguliert – der epigenetischen. Epigenetik bedeutet „Über die Genetik hinaus“. Es handelt sich dabei mitunter um chemische Modifikationen der einzelnen DNA Bausteine, bzw. der Proteine um die sich die DNA wickelt. Die Abfolge der Buchstaben wird dabei nicht verändert, jedoch entscheidet die Modifikation ob ein Gen abgelesen wird oder nicht. Beispielsweise kann eine angebrachte Acetyl Gruppe das Ablesen eines Gens fördern. Eine Methylgruppe kann den gegenteiligen Effekt haben. Zusammen mit weiteren Modifikationsmöglichkeiten bildet sich so ein epigenetischer Code, der mitbestimmt welche Gene aktiv sind.
Und hier liegt der Hund begraben: Manche dieser Modifikationen werden durch Umwelteinflüsse festgelegt über mehrere Generationen hinweg an die Nachkommen weitergegeben.
Vererbbare Angst
Wieder einmal mussten die Mäuse herhalten. 2013 ließ man Mäuse an Acetophenon riechen. Dabei handelt es sich um einen süßlichen Duft. Kurz darauf verabreichte man den Tieren einen Stromstoß. Das tat man so oft, bis alleine der Geruch die Mäuse ängstlich Erstarren ließ. Man brachte die Tiere zur Paarung und untersuchte ihren Nachwuchs. Die nächste Generation, als auch deren Nachkommen zeigten eine erhöhte Ängstlichkeit in Gegenwart von Acetophenon, verglichen mit einer Kontrollgruppe. Obwohl der Mäusenachwuchs selbst nie auf den Geruch konditioniert wurde, erstarrten die Tiere bei einem erschreckenden Geräusch länger, wenn die Umgebung nach Acetophenon roch. Das Verhalten war spezifisch für den Acetophenon Geruch, es zeigte sich nicht bei Düften, mit denen die Elterngeneration keinen Kontakt hatte. Die Mäuse waren auch nicht allgemein ängstlicher. Es wurde gezielt die Furcht in Zusammenhang mit Acetophenon vererbt.
Den Grund für dieses Verhalten fand man im Gehirn. Im Riechsystem der Tiere war die Anzahl der Acetophenon Rezeptoren, stark erhöht. An dem Gen, das für diese Rezeptoren verantwortlich ist, fanden sich weniger Methylgruppen, wodurch das Gen stärker abgelesen wird und sich mehr Rezeptoren bilden. Wie genau die Wahrnehmung des Duftes die Methylierung des Gens verändert, ist noch umstritten. Epigenetik ist ein relativ junges Forschungsfeld. Doch auch beim Menschen sind bereits Beispiele von Generationen übergreifender epigenetischer Vererbung bekannt. Hatte Lamarck also letzten Endes doch Recht?
Nicht direkt. Die epigenetische Vererbung von Eigenschaften ist zwar schneller als der klassische Evolutionsprozess, dafür nicht von Dauer. Durch die Epigenetik verändert sich nicht die Buchstaben-Abfolge der DNA, sondern deren chemische Anhängsel. Diese sind dynamisch und gehen spätestens nach ein paar Generationen wieder verloren. Die korrektere Sichtweise wäre es also, Epigenetik als eine Ergänzung zu der Theorie Darwins zu sehen.
Nach seinen Mäuseschwanz Experimenten hat Weismann die Lamarck vs. Darwin Debatte zusammengefasst: „Nicht das Rennen hat die Pferde in 200 Jahren zu Rennpferden gemacht, sondern die Auswahl der für das Rennen vorteilhaftesten Variationen unter den Nachkommen ausgezeichneter Schnellläufer“. Theoretisch wäre es nicht undenkbar, dass die Nachkommen von körperlich sehr aktiven Rennpferden zusätzlich einen epigenetischen Vorteil mitbekommen. Aber das ist reine Spekulation. Seit ein paar Jahren ist man in der Lage, epigenetische Modifikationen genomweit zu untersuchen. Nach dem Genom rückt also das Epigenom immer weiter in den Mittelpunkt. Wer weiß was sich da noch alles findet. Spannende Zeiten für Molekularbiologen!
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