Wenn Wissenschaftler eine genetische Krankheit verstehen wollen, gehen sie dabei meistens nach einem altbewährten Schema vor:
- Identifiziere den zugrundeliegenden Erbdefekt
- Baue den Erbdefekt in einem Modellsystem (Zellkultur, Maus, etc.) nach
- Analysiere den Krankheitsmechanismus
- Teste, wie man die Krankheitsausprägung abschwächen kann
- Publiziere in einem guten Journal, kassiere den Nobelpreis und sei der Held auf jeder Party
Klingt nach einem guten Plan und funktioniert auch oft bis inklusive Punkt 4. Aber was, wenn man einen Krankheits-auslösenden Gendefekt in ein Versuchstier einbaut, das sich aber weigert krank zu werden? Ist das dann gut oder schlecht?
Ringo war einer dieser Fälle, ein Golden Retriever, der 2003 in Brasilien auf die Welt kam. Er und seine Wurfgeschwister wurden so gezüchtet, dass sie eine Defekte Version des Dystrophin-Gens trugen. Dystrophin ist ein Protein, das in Muskelfasern benötigt wird. Einer von 5000 Menschen kommt mit einem Defekt in diesem Gen auf die Welt. Als Folge erkranken diese Leute an der Muskeldystrophie Duchenne, bei der erste Lähmungserscheinungen im Kindesalter auftreten und die im jungen Erwachsenenalter immer tödlich endet. Anhand der Hunde wollte man die Krankheit genauer untersuchen.
Bei Ringos Geschwistern hat das auch hervorragend geklappt, bei ihm selbst allerdings nicht. Er erfreute sich bester Gesundheit bis ins hohe Hundealter, obwohl er genau wie seine Geschwister den Gendefekt trug. Warum wurde Ringo nicht krank? Es stellte sich heraus, dass in dem Hund zufällig eine weitere Mutation aufgetreten ist, die ihn vor der Muskeldystrophie schützt. Dabei handelte es sich um eine Mutation in einem Gen, die zu einer verstärkten Produktion des Jagged1 Proteins führt. Jagged1 wurde nie mit Muskeldystrophie in Verbindung gebracht, aber seine verstärkte Produktion hat die Krankheitsausprägung verhindert. Um ganz sicher zu gehen hat man das Dystrophin Gen daraufhin auch in Zebrafischen mutiert, woraufhin die Fische erkrankten, außer man mutierte zusätzlich das Gen für Jagged1.
Durch Ringo sind die Forscher zufällig auf eine Mutation gestoßen, die den krankheits-auslösenden Defekt kompensiert – ein Konzept das man Synthetic Rescue nennt. Die Forscher suchen nun nach Medikamenten, die die Jagged1 Produktion erhöhen, um eine bisher unheilbare Krankheit behandelbar zu machen.
Glück gehabt
Als Forschungsmethode taugt es wenig darauf zu hoffen, dass Versuchstiere zufällig rettende Mutationen entwickeln. Viele Forscher, inklusive meiner Wenigkeit, suchen deshalb gezielt nach Synthetic Rescue Mutationen, indem sie eine krankmachende Genvariante einführen und zusätzlich systematisch andere Gene mutieren. Aber vielleicht ist das in vielen Fällen gar nicht notwendig.
Leute die aufgrund eines Erbdefektes eine Krankheit entwickeln, sind für die Forschung natürlich interessant und werden entsprechend untersucht. Aber was ist mit den Leuten, die aufgrund eines Erbdefektes eigentlich krank sein müssten, es aber nicht sind? Von denen hört man wenig, weil sie keinen Grund haben zum Arzt zu gehen um sich auf diesen Erbdefekte untersuchen zu lassen. Dabei sind es genau diese Menschen, die eine rettende Zusatz-Mutation tragen könnten.
Wir sind beinahe 7,4 Milliarden Menschen auf der Welt und praktisch alle davon tragen irgendwelche krankheitsrelevanten Gene. Die Menschheit an sich ist vermutlich vollgestopft mit Synthetic Rescue Mutationen, die wir aber nicht entdecken werden, wenn wir uns nicht auch für die Gene der gesunden Leute interessieren.
Unerwartete Genetische Helden
Die Wissenschaft kennt hunderte Mutationen die Krankheiten verursachen. Die systematische Suche nach den noch interessanteren Genvarianten – nämlichen denen die eine Krankheit verhindern – steckt noch in den Kinderschuhen. Einer der Pioniere auf dem Gebiet ist der amerikanische Forscher Stephen Friend. Er hat ein Projekt namens „The Resilience Project – A Search for Unexpected Heroes“ ins Leben gerufen. Man schätzt, dass etwa einer von 20.000 Menschen ein „Unexpected Genetic Hero“ ist. Das sind Menschen, die eigentlich erkranken müssten, es aber nicht tun, weil sie durch eine Synthetic Rescue Mutation davor geschützt sind. Um diese Helden zu finden sammelt das Resilience Project DNA Proben von einer Million freiwilligen Menschen rund um den Globus, die über 40 Jahre alt sind und nie an einer genetischen Kindheitserkrankung gelitten haben. Diese werden dann auf Gendefekte getestet, von denen man weiß dass sie eigentlich schwere Kindheitserkrankungen verursachen müssten. Da diese Leute nicht erkrankt sind, muss sie irgendetwas davor bewahrt haben, sei es Nahrung, Umwelteinflüsse oder eben Rescue Mutationen. Letztere will das Projekt finden um Therapien zu entwickeln.
Jeder der den Kriterien entspricht kann zu dem Projekt beitragen, indem er oder sie das Test-Kit anfordert und etwas Spucke zur DNA Analyse mit der Post verschickt. Obwohl das Projekt noch lange nicht abgeschlossen ist, wurden dabei bereits Dutzende Unexpected Heros gefunden.
Der Grund warum man erst jetzt damit begonnen hat, systematisch Leute zu untersuchen die nicht krank sind ist, dass genetische Untersuchungen erst seit kurzem spottbillig sind. Tatsächlich ist es heute teurer die Spucke-Proben zu sammeln und zu verschiffen, als die genetischen Daten zu erzeugen und zu analysieren.
Der Preis für die komplette Sequenzierung eines menschlichen Genoms sinkt deutlich schneller, als es Moore’s Law vorhergesagt hat. Davon hätte kein Experte vor 10 Jahren zu träumen gewagt. Wir stehen kurz davor, dass eine komplette Genomsequenzierung als Routineuntersuchung leistbar wird.
Sind all diese genetischen Daten erst einmal vorhanden, können sich Bioinformatiker darauf stürzen um Rescue Mutationen für die verschiedensten Erbdefekte zu identifizieren. Dadurch wird die Forschung nicht nur von Patienten lernen was einer Erbkrankheit zugrunde liegt, sondern auch von Gesunden, wie man sie verhindert. Die Untersuchung von Gesunden ist also genauso wichtig wie die von Kranken. Durch sie können wir unter uns Menschen die Ringos finden, die das Geheimnis vom gesunden Leben trotz Erbdefekt in sich tragen.
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