Wenn es um Retraktionen geht, schalten viele Verlage auf stur oder verfallen in Schreckstarre. Obwohl, das trifft es nicht immer. Manchmal ist auch böser Wille im Spiel (was mir als zutiefst an das Gute im Menschen glaubenden Mit-Menschen immer schwer fällt zu akzeptieren). Nämlich dann, wenn wirklich alles klar ist – und doch nichts passiert. Besonders fatal ist es, wenn es nicht um eine Sache geht, die – sorry, Ihr Borstenviecher – kein Schwein interessiert, sondern um angebliche handfeste Beweise, dass Handystrahlung weit unterhalb der Grenzwerte DNA-Schäden verursacht, was, wie jede(r) sich vorstellen kann, böse Konsequenzen hätte. Springer Nature (früher einfach Springer) ist ein Verlag, dem es offensichtlich vollkommen schnurz ist, ob so eine Studie Müll ist oder nicht. Ach nein, sie wissen es sogar! Und tun trotzdem – nichts! Ein kleiner Essay.

Alles hatte 2008 angefangen, damals entdeckte ich Daten, produziert von einer Wiener Arbeitsgruppe, die einfach viel zu schön waren, um wahr zu sein. Eine hochgradig ungenaue, manuell-mikroskopische Methode, dennoch waren die Abweichungen von den Mittelwerten stets < 5%; seltsame Statistiken; Verblindungscode gebrochen (das wurde sogar dokumentiert…), usw. Veröffentlicht unter anderem in einem Springer-Journal mit dem sperringen Titel International Archives of Occupational and Environmental Health und dem ebenso sperrigen Kürzel IAOEH. Egal, die Daten schlugen ein wie eine Bombe: DNA-Schäden durch Mobilfunk-“Strahlung”! Ein gefundenes Fressen für die (Handy-) Strahlungsphobiker, Baubiologen und andere Leute, denen das alles sehr gut zu Pass kam.

Jedenfalls kam noch 2008 raus, dass die Verblindung kinderleicht geknackt werden konnte und geknackt wurde, und jetzt kommt’s: Die Herausgeber haben ein “Expression of Concern” geschrieben (der ging noch 2008 online), in dem sie die Veröffentlichung in IAOEH in Grund und Boden stampften, sie aber nicht zurückzogen. Wortlaut: “We conclude that an essential part of the Methods section (an externally imposed blind) of the Schwarz et al. paper is unreliable because of the undisclosed opportunity for fraud. Therefore, all subsequent parts of the paper (results, discussion) cannot safely be relied on. The editors of IAOEH wish to express their doubts about the results reported in the paper by Schwarz et al. (2008) in this EXPRESSION OF CONCERN and to apologize to the readers of IAOEH for publishing this paper.” (Hervorhebungen von mir). Unterzeichnet von den Herausgebern Drexler und Schaller. Hier der Link.

Grübel grübel (gibt’s hier eigentlich emojis?): Die Herausgeber vertrauen den Daten nicht, zweifeln sie an, entschuldigen sich gar für die Veröffentlichung der Studie – und ziehen sie nicht umgehend aus dem Verkehr??? Ist irgendetwas an dieser Geschichte missverständlich? Lässt irgendetwas Raum für Interpretationen?

Nein, all das ist abwegig. Richtig ist: Einer der Autoren der Murks-Studie, Hugo Rüdiger aus Wien, war (und ist…) Mitherausgeber der Zeitschrift. Ob das was mit der Entscheidung zu tun hat, die Studie nicht zurückzuziehen, kann ich nicht beurteilen, Mutmaßungen sind natürlich erlaubt.Ob die Herausgeber aus irgendwelchen Gründen “Retraktion” nicht in Betracht ziehen, generell oder nur in diesem Fall, entzieht sich ebenso meiner Kenntnis. Jedenfalls wird diese Schrott-Studie immer noch zitiert, bislang sage und schreibe 44-mal, bis heute, und gehört damit zu den am häufigsten zitierten Artikeln dieser Zeitschrift.

Ob Springer Nature generell Probleme mit der Retraktion von Schrott-Studien wie dieser hat, ist sozusagen der Lackmus-Test für den Anspruch des Verlages, ethisch zu handeln. Und jetzt wird es wirklich absurd: Solche Standards gibt es bei Springer Nature! Zu finden sind sie hier.

Wir lesen (Hervorhebungen von mir):

Retractions are usually the last resort. Where possible an erratum should be published, but sometimes this is not possible. 

A retraction is necessary when: 

  • Unreliable data mean that the results and conclusions cannot be trusted – both genuine mistakes by the authors and scientific misconduct including data fabrication“…

Wir reiben uns die Augen: Wo – bitte – ist das Problem? Warum wird die Studie nicht zurückgezogen? Wenn es doch glasklarer nun wirklich nicht geht??

Ach ja: Die Ergebnisse wurden nie reproduziert, trotz vieler Versuche (siehe z.B. hier).

Es kommt, kaum zu glauben, aber noch schlimmer. Es gibt nämlich mehrere Gutachten, die das Paper regelrecht zerpflücken. Das jüngste, von einem Mathematik-Professor aus Österreich, bestimmt die “Wahrscheinlichkeit”, dass die Daten realen Ursprungs sind, mit 10 hoch minus 100. Also so etwa 6-mal einen 6er im Lotto gewinnen – hintereinander. Gutachten Pilz II

Das alles ist den Herausgebern und dem Verlag lange bekannt, ficht aber scheinbar niemanden an.

Vor der Veröffentlichung dieses Beitrags habe ich ihn am 28.2.17 dem zuständigen Juristen bei Springer Nature mit der Bitte vorgelegt, ggf. notwendige inhaltliche Korrekturen bis zum 1.3.17 zu benennen. Ich erhielt keine Antwort, es ist also alles nicht zu beanstanden, was ich schreibe.

Falls die Leser neben Kommentaren auch eine Nachricht an den zuständigen Mann bei Springer Nature schicken möchten, bitte ich um Zusendung an meine E-Mail Adresse, ich leite sie dann weiter: a.lerchl@jacobs-university.de

 

 

 

Kommentare (6)

  1. #1 RPGNo1
    2. März 2017

    Das hört sich nicht gut an. Besonders wenn eine solch fehlerbehaftete Studie womöglich noch von Esoterikern, Cranks oder VTlern als “Beweis” für die “böse” Handystrahlung herangezogen wird.

    Grübel grübel (gibt’s hier eigentlich emojis?)

    Bitte schön: https://www.google.de/search?q=gr%C3%BCbel+emoji&biw=1536&bih=874&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwiog7znwLfSAhWBShQKHeBKBIsQ7AkIKA

  2. #2 jeetboy
    2. März 2017

    erschreckend… Danke für diesen Beitrag!

    Aber die Frist zur Antwort war mit einem Tag (!) sicherlich zu kurz:

    “Vor der Veröffentlichung dieses Beitrags habe ich ihn am 28.2.17 dem zuständigen Juristen bei Springer Nature mit der Bitte vorgelegt, ggf. notwendige inhaltliche Korrekturen bis zum 1.3.17 zu benennen.”

    • #3 Alexander Lerchl
      2. März 2017

      Der gute Mann war vorgewarnt und hatte schon vorher auf Nachfragen nicht mehr geantwortet. Und Journalisten lassen einem auch nicht mehr Zeit…

  3. […] GORI – German Office of Research Integrity (scienceblogs.de): Retraktionen: Doppelte Moral bei Springer Nature […]

  4. #5 Uli
    6. März 2017

    Hmmm…

    Die Wahrscheinlichkeit für einen Sechser im Lotto ist etwa 1:14.000.000.

    Runden wir die Chance auf den Jackpot großzügig auf 1:10^8 auf, dann müssten wir den Jackpot 13 Mal hintereinander gewinnen, um auf eine Chance kleiner als 1:10^100 zu kommen, oder?

    • #6 Alexander Lerchl
      6. März 2017

      Jep. Allerdings können sich die meisten Leute 10^-100 schon nicht vorstellen, und im Gutachten steht ja auch, dass es viele Millarden Mal wahrscheinlicher ist, soundso oft einen Sechser zu gewinnen als dass die Daten im Paper realen Ursprungs sind…