Vor 40.000 Jahren begannen Menschen plötzlich, Tierfiguren, Schmuck und Flöten zu schnitzen. Was dachten sich die Steinzeitkünstler dabei? Und haben wir überhaupt eine Chance, das nach so langer Zeit herauszufinden?
Der Archäologe Nicholas Conard zieht eine Abdeckplane zur Seite und steigt in die Grube hinab. Gut einen Meter tief hat er mit seinem Team schon gegraben und ist auf eine 15.000 Jahre alte Feuerstelle gestoßen. In der Nähe der bekannten Vogelherdhöhle bei Ulm, die heute ein Themenpark ist, hat er eine neue steinzeitliche Lagerstätte gefunden und will sie weiter untersuchen, bis er auf die Zeit vor 40.000 Jahren stößt. Wie er darauf gekommen ist, gerade hier zu graben? Das Lager ist durch einen aufragenden Felsen windgeschützt – nach solchen Orten müsse man suchen, erläutert Conard. Und wenn man sich die Bäume wegdenke, die es hier vor 40.000 Jahren nur vereinzelt gab, dann hat man freie Sicht in Richtung Sonnenuntergang. „Was heute schön ist, war auch damals schön – bis zu einem gewissen Punkt“, sagt Conard.
Die Unesco entscheidet in den nächsten Tagen [Nachtrag 9. Juli: die Unesco hat positiv entschieden], ob die Vogelherdhöhle gemeinsam mit fünf weiteren Höhlen auf der Schwäbischen Alb zum Weltkulturerbe erklärt wird – weil sie Fundstätten sind, die ihresgleichen suchen. Vor rund 40.000 Jahren haben unsere Vorfahren hier begonnen, Tierfiguren aus Elfenbein zu schnitzen, Schmuck und Flöten herzustellen. In der Vogelherdhöhle wurde zum Beispiel ein fünf Zentimeter großes Pferdchen entdeckt, und in der nahen Stadel-Höhle ein 30 Zentimeter großer Löwenmensch, der mutmaßlich eine kultische Bedeutung hatte und aus Hunderten von Splittern zusammengesetzt werden musste. Für diese ersten künstlerischen Gegenstände gibt es keine Vorläufer – die Forscher sprechen von einer „Explosion der Kreativität“. Es sind auch keine ähnlichen Funde aus anderen Weltregionen bekannt. Warum der moderne Mensch gerade hier auf die Kunst kam, ist ein Rätsel.
Am Ende der bewohnten Welt
Im Urgeschichtlichen Museum Blaubeuren sind viele dieser Funde ausgestellt – beispielsweise die üppige Frauenfigur aus der Höhle Hohle Fels, die „Venus“ genannt wird. Im ersten Raum der Ausstellung wird aber erst einmal erläutert, wie man sich die steinzeitliche Umgebung vorstellen muss: Homo sapiens wanderte vor 40.000 Jahren die Donau herauf, die als ein breites, trostloses Geröllfeld dargestellt wird. Im Süden die vergletscherten Alpen – die in der damals trockeneren Luft aus der Ferne gut zu sehen waren – und im Norden, auf der heutigen Schwäbischen Alb, eine tundra-artige Landschaft. Hier lebten Bären, Löwen und natürlich die Mammuts, deren blassweißes Elfenbein die steinzeitlichen Künstler nutzten. (Gejagt haben sie vermutlich Pferde und Rentiere, die einfacher zu erlegen waren.) Die Menschen müssen sich in dieser kargen Umgebung gefühlt haben wie am Ende der bewohnten Welt.
Aber darf man sich so weit in unsere Vorfahren hineinversetzen? 40.000 Jahre sind schließlich eine sehr lange Zeit – die Menschen könnten uns wie Außerirdische vorkommen, wenn wir sie treffen würden, denke ich. Zwei Archäologinnen aus Conards Team an der Universität Tübingen erklären mir daher, welche Fragen ihr Fach beantworten kann – und was Spekulation bleiben muss: Ewa Dutkiewicz, die den Archäopark Vogelherd wissenschaftlich betreut, und Sibylle Wolf, die in Tübingen das Senckenberg-Zentrum für menschliche Evolution und Paläoumwelt koordiniert. Sie widersprechen meiner Alien-Theorie: Würden wir den Steinzeitmenschen begegnen, kämen sie uns nicht fremder vor als Menschen aus einer anderen Kultur der Gegenwart.
Die Menschen damals waren etwa so groß wie wir und hatten eine etwas dunklere Hautfarbe. Ihr Gehirn war so weit entwickelt, wie es unseres heute ist. Geistig waren sie uns also nicht unterlegen und ihr Gefühlsleben dürfte unserem geähnelt haben. An ihre Alltagswelt muss man sich aber langsam herantasten. Manche Vermutung liegt nahe: Mit den Flöten werden unsere Vorfahren musiziert haben, sicher wurde dazu auch getrommelt und gesungen. Aber warum haben sie einige aus Elfenbein gefertigt und nicht wie sonst aus hohlen Vogelknochen? Die Elfenbeinflöten klingen nicht besser – sie sind bloß schwieriger herzustellen, weil man den Elfenbeinstab der Länge nach spalten, aushöhlen und wieder zusammenkleben muss. Waren diese Flöten also Luxusprodukte, mit denen man angeben konnte? Solche Fragen lassen sich wohl nicht endgültig beantworten.
Und die Kehrwoche? In Schwaben liegt diese Frage nahe. Tatsächlich gibt es Hinweise darauf, dass die Höhlen geputzt wurden. Die Menschen in den Tälern von Ach und Lone blieben auch lieber unter sich, obwohl sie ihre Nachbarn gekannt haben müssen. Dafür spricht der Schmuck, den mir Sibylle Wolf im Museum zeigt: In den Höhlen auf der Schwäbischen Alb trug man vor 40.000 Jahren doppelt durchlöcherte Perlen aus Elfenbein. Sie wurden über Jahrhunderte geschnitzt und sind andernorts nicht zu finden. Ob sie als Statussymbol dienten und bei welchen Anlässe sie getragen wurden, weiß niemand. Aber Sibylle Wolf ist sicher: Sie waren Teil einer Tradition und demonstrierten die Zusammengehörigkeit zu einer Gruppe.
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