Gewalt ist für jeden Menschen immer eine Möglichkeit. Da jede Grausamkeit vorstellbar ist – und als Vorstellung Potential hat, zur Realität zu werden – ist es spannend zu untersuchen, in welchen Zusammenhängen die Menschen stehen, die sich zu Gewalt verhalten. Eine Untersuchung der Räume der Gewalt muss dabei, so Jörg Baberowski in seiner Einleitung, weniger eine Ursachenforschung sein. Vielmehr muss es um die konkreten Gelegenheiten und Situationen gehen, in denen Gewalt entsteht. Thematisiert werden soll dazu die Alternativlosigkeit des Verhaltens von Menschen zu Gewalttätern. Oft sind es weniger moralische Vorstellungen, die zu Gewalt führen, sondern gerade die Abwesenheit von freien Entscheidungsmöglichkeiten. Es geht also um die Möglichkeitsräume von Menschen, ob Handelnde oder Passive, in Gewaltsituationen.
Von Daniel Rübel
Felix Schnell zeigte dies am konkreten Beispiel des Russischen Bürgerkriegs. Dort lässt sich gut beobachten, dass Räume, in denen Gewalt geschieht, zwar mit räumlichen oder politischen Grenzen zusammenfallen können, aber nicht müssen. Das soziale Verhalten reicht schon aus, um einen Gewaltraum entstehen zu lassen. In der Ukraine zwischen 1917 und 1921, dem Hauptschauplatz des Krieges, waren die Grenzen in ständiger Verschiebung.
Gewalt gegen Zivilisten
Die neue, extrem mobile Kriegsführung, die vielen verschiedenen Parteien und “Warlords”, die neben der Roten und Weißen Armee kämpften und der lange Zeitraum des Krieges bedingten schnelle Überfallstaktiken mit raschen Rückzügen ohne Entscheidungsschlachten. Dafür wurde die Gewalt gegen Zivilisten zur Regel. Diese konnten sich oft schon aufgrund ihrer körperlichen Verfassung dem Krieg nicht entziehen. Die emotionale und kulturelle Verbundenheit spielte neben dem begrenzten Wissen der Dorfbevölkerung über andere Orte ebenfalls eine Rolle. Allerdings hatten die Soldaten oft nicht mehr Handlungsspielraum. Einerseits wurde Desertation hart bestraft, andererseits gab es schlicht und ergreifend keinen Raum, in den man sich hätte flüchten können: der Bürgerkrieg war aufgrund seiner Grenzenlosigkeit überall. Die Frage nach Mitmachen oder nicht stellte sich nicht – man musste sich immer zur Gewalt verhalten.
Kroatien im 2. Weltkrieg: Kein einheitlicher Genozid
Die Situation im unabhängigen Staat Kroatien während des Zweiten Weltkriegs war ähnlich chaotisch wie im Russischen Bürgerkrieg. Alexander Korb zeigte, dass die kroatisch-nationalistischen Ustaša nur eine Minderheit an etwa 50% der Bevölkerung stellten und dennoch versuchten, den Staat zu homogenisieren. Dazu kamen deutsche und italienische Armeeeinheiten und Aufständische, die sich zusätzlich untereinander bekämpften. Gewalt und Gegengewalt, Massengewalt in ihrer ganzen Breite kennzeichnete die Kämpfe und Aktionen der Parteien. Der Begriff Genozid ist daher in diesem Zusammenhang zu vereinheitlichend, der Konflikt war multipolar und komplex.
Die vielen Formen der Gewalt passten sich den räumlichen Gegebenheiten an. Ethnische Säuberungen und Vertreibungen führten zur Flucht in Wälder und Gebirge, Massaker wurden oft dort verübt, wo der Machtanspruch zum Beispiel der Ustaša nur schwer durchgesetzt werden konnte. In die Lager wurden vor allem städtische Juden und Roma transportiert, Geiselerschießungen wurden öffentlich bekanntgemacht. Gewalt entstand häufig zwischen den Zonen der beiden Besatzungsmächte, wo deren Einfluss gering und die Handlungsspielräume der anderen Akteure groß waren. In den Ebenen wurde um die Kontrolle über die Ernte gekämpft, leicht verbarrikadierbare oder schwer erreichbare Orte waren weniger stark betroffen. Die Gewaltforschung muss entsprechend die Zugriffsmöglichkeiten auf Orte untersuchen, an denen Gewalt ausgeführt wird.
Soziale Logik des Gewaltraums
Marc Buggeln hatte die Gewalt in KZ-Außenlagern als soziale Handlungen im Blick, die über alle beteiligten Seiten etwas aussagen. Nachdem im Verlauf des Krieges immer mehr auf die Zwangsarbeiter aus den Konzentrationslagern zurückgegriffen wurde, um die Produktion aufrecht zu erhalten, wandelte sich der Charakter der Gewalt gegen die Häftlinge. Die schwersten Strafen wurden seltener verhängt, rücksichtslose Gewalt wurde weniger. Die Vernichtungslogik der KZs wich einer Verwertungslogik.
Das KZ als Gewaltraum kennzeichnete sich durch dynamische Grenzen.
Ungefähr 80% der KZ-Häftlinge befanden sich im Arbeitseinsatz für Firmen in Außenlagern – und damit bei weitem nicht so abgetrennt von der Welt und der deutschen Bevölkerung als das in den Hauptlagern der Fall war. Schon die Lager selbst waren aufgrund ihrer Größe und Lage einzusehen und so wirkte Gewalt in ihnen nach außen. Öffentliches Erhängen im Lager wurde in der Bevölkerung wahrgenommen, örtliche NS-Parteileiter stolzierten mit umgeschnallter Pistole im Lager herum und prügelten so wie die SS-Bewacher, Kinder warfen Steine nach den Häftlingen. Auf dem Weg vom Lager zur Arbeitsstelle gab es ebenfalls unsichere, dynamische Grenzen. Hier wurden Grenzüberschreitungen täglich von den Wachen neu definiert, was am einen Tag akzeptiert wurde, konnte am Tag danach schon ein Schritt zuviel sein – mit tödlichen Folgen. Die Arbeitsstelle selbst wurde oft mit Postenketten abgesichert. Gerade gegen Ende des Kriegs, als Soldaten knapp wurden und die Fabriken oder Trümmerstellen, in denen die Häftlinge eingesetzt wurden, unübersichtlich waren, war dort sogar vereinzelt die Flucht möglich.
Flucht ist keine Option
Wie in den beiden anderen Gewalträumen, von denen die Sektion handelte, sahen viele allerdings keinen Sinn in einer Flucht in Deutschland, die Gefahr, wieder gefasst und dann erschossen zu werden, war groß. Die Grenze verlief oftmals innerhalb der Köpfe. Dazu kamen die erwähnten Auswirkungen auf die Bevölkerung und Rückwirkungen auf die Behandlung der normalen Arbeiter: griffen die SS-Bewacher hart durch und sprach sich die Betriebsleitung nicht dagegen aus, verschlechterte sich auch deren Situation. Sogar unter den Häftlingen konnten sich Drucksituationen in Gewalt und Unterdrückung gegen schwächere und “den Arbeitsprozess aufhaltende” Mithäftlinge entladen.
- Link zur Sektionsseite: Entgrenzung und Begrenzung der Gewalt: Annäherungen an eine Morphologie tödlicher Zonen im Europa des 20. Jahrhunderts
(Redaktion: KP/MS)
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