Roderich Moessner ist einer von drei Direktoren am Dresdner Max-Planck-Institut für die Physik komplexer Systeme. Er leitet die Abteilung “Kondensierte Materie”. Ich gestehe ihm, dass ich nicht einmal weiß, was das heißt.

Kein Problem: “Kondensiert” nennen die Physiker Materie, deren Bausteine in Flüssigkeiten oder Festkörpern gebunden und bis zu einem gewissen Grad geordnet sind. Das können biologische Materialien sein, kristalline oder glasartige Werkstoffe.

Aus alltäglicher Sicht besteht die Welt mithin überwiegend aus kondensierter Materie. Nur dass sich diese aus Physikerperspektive etwas anders darstellt als für den Laien: Der Sessel, auf dem ich sitze, besteht im Wesentlichen aus leerem Raum, so hat es mir Moessners schwedischer Postdoc-Mitarbeiter Janik Kailasvuori erklärt. Dass ich nicht durch den Sessel hindurch falle, habe ich der Tatsache zu verdanken, dass die Materieteilchen, also die Elektronen, Quarks und wie sie alle heißen, in dem dreidimensionalen System aus Stahl, Plastik und Stoff gebunden sind, das meiner Sitzfläche Widerstand entgegenbringt.

Nach den Gesetzen der Quantenmechanik, denen die einzelnen Teilchen unterworfen sind, würde es sie zu viel Energie kosten, sich umzuorganisieren. In der wundersamen Welt der Quantenmechanik lassen sich einzelne Materiebausteine, selbst in gebundenem Zustand, nicht einmal eindeutig lokalisieren. Man kann lediglich die statistische Wahrscheinlichkeit angeben, dass sich ein Teilchen gerade hier aufhält und nicht anderswo.

Die klassisch physikalischen Phänomene, etwa die Festigkeit des Sessels, die Elastizität des Stoffbezugs oder die elektrische Leitfähigkeit des Metalls, gehen auf das kollektive organisierte quantenmechanische Verhalten vieler gebundener Teilchen zurück. “Das ist wie bei einer Menschenmenge”, sagt Moessner, “da unterscheidet sich das kollektive Verhalten auch von dem jedes Einzelnen”.

Nun gibt es jedoch kondensierte Materie, die exotische, nur quantenmechanisch erklärbare Eigenschaften aufweist. Auf die konzentrieren sich Moessner und seine Mitarbeiter. Korrekterweise müsste sich die Abteilung deshalb “bizarre kondensierte Materie” nennen. Dazu gehört zum Beispiel “Spin-Eis”. Dieser Begriff bezeichnet Materialien, in denen die Atome und Moleküle so angeordnet sind, dass sie sich, laienhaft ausgedrückt, niemals wirklich entspannen können. Selbst am absoluten Nullpunkt, wo sie nach den Gesetzen der Thermodynamik eigentlich ein Energieminimum erreichen und sich ganz regelmäßig ordnen müssten, sind sie noch ein bisschen unorganisiert. Man könnte auch sagen: Nicht richtig gebunden.

In solchen Materialien finden die Physiker unter bestimmten Bedingungen Teilchen, deren Ladung immer ein Drittel der Elektronenladung oder Vielfache davon beträgt – anders als es nach dem klassischen “Hall-Effekt” zu erwarten wäre. Dieser besagt nämlich, dass die in einem leitenden Material gemessene Spannung gleichmäßig ansteigt, wenn man es auf sehr niedrige Temperaturen abkühlt und dann ein Magnetfeld anlegt, das man gleichmäßig stärker werden lässt. Bei Spin-Eis-Materialien tritt der “Quanten-Hall-Effekt” ein, das heißt, die gemessene Spannung steigt nicht gleichmäßig, sondern stufenweise an.

Moessners Forschungsgruppe hat vor zwei Jahren weitere sonderbare Teilchen in Spin-Eis entdeckt: Magnetische Monopole weisen eine magnetische “Ladung” auf – also etwas, das der Schulweisheit komplett zuwider läuft, wonach magnetischer Süd- und Nordpol stets untrennbar in einem Dipol gepaart sind. In der Welt der Physik war dieses Phänomen lange theoretisch diskutiert worden. In Zusammenarbeit mit experimentellen Physikern konnte Moessners Gruppe es erstmals nachweisen. Es liefert die Erklärung für das mysteriöse Verhalten von Spin-Eis-Materialien beim Übergang vom flüssigen zum gasförmigen Zustand unter Einfluss von Magnetfeldern.

Eine weitere Organisationsform von Materie mit merkwürdigen Eigenschaften sind Supraleiter. Darunter versteht man Werkstoffe, die bei extrem tiefen Temperaturen ihren elektrischen Widerstand aufgeben, sodass sie Strom fast verlustfrei leiten. So recht nach Moessners Geschmack sind auch “exotische Magneten”, die erst tiefgekühlt magnetisch werden, einlagige Schichten von Atomen, in denen die Elektronen gewissermaßen herumschwimmen, “Elektronenflüssigkeiten” genannt, oder sandwichartig aufgebaute Materialien mit einer “Füllung”, die so dünn ist, dass die Elementarteilchen darin sich nur in einer Ebene, also stark eingeschränkt aneinander und an anderen Teilchen vorbei bewegen können.

Dieses Aneinander-Vorbeibewegen in zweidimensionaler Umgebung ist für Moessners Forschungsteam besonders interessant. Denn dabei erscheinen neuartige Teilchen, die sich wieder ganz anders verhalten als alle bisher bekannten: Im Gegensatz zu diesen macht es bei den so genannten Nicht-Abelschen Teilchen einen Unterschied, wie sie aneinander vorbei bewegt werden. Wenn man etwa zwei von ihnen zweimal miteinander vertauscht, befinden sich zwar beide wieder in ihrer ursprünglichen Lage. Anders als beim Hütchenspiel hat diese Lageveränderung aber selbst auf weiter entfernt liegende Teilchen eine geheimnisvolle Fernwirkung ausgeübt und das Teilchenkollektiv verändert. Wenn das System zuvor einen Zustand “0” hatte, besitzt es jetzt den Zustand “1”.

Man kann sich den Weg, den die nicht-Abelschen Teilchen beim Herumbewegen zurücklegen, wie die Stränge eines Zopfes vorstellen: Je nachdem, ob man mit Strang 1, 2 oder 3 beginnt, sieht der fertige Zopf etwas anders aus. Aber natürlich lassen sich Elementarteilchen oder Quasi-Teilchen nicht von bloßer Hand “verflechten”. Dies geschieht vor allem im Kopf, lange bevor experimentelle Physiker sich in komplizierten Versuchsanordnungen praktisch daran versuchen. Janik Kailasvuori etwa spielt, wie er sagt, “mit mathematischen Modellen herum, die das Verhalten von nicht-Abelschen Teilchen beschreiben”. Für mich erhebt er sich kurz aus seinem Sessel und führt mit tänzerisch geschulten Bewegungen vor, wie die Teilchen mal so, mal anders umeinander herum fließen können.

Das leuchtet ein – auch wenn die Theorie dahinter mir verschlossen bleibt: wie die Quantenmechanik komplexe Zahlen ins Spiel bringt und wie dann wieder “diskrete Zustände” herauskommen. Für mathematisch Interessierte, fügt Janik seinen Erklärungen fast entschuldigend hinzu, sei das “sexy”.

Kommentare (4)

  1. #1 Jörg
    November 22, 2010

    Sehr interessante Perspektive, ein gelungener Artikel! Nur eine kleine Bemerkung, es geht wahrscheinlich um den Quantum Spin Hall Effect, der Quantum Hall Effect tritt nämlich eigentlich nur in zweidimensionalen Systemen auf, hängt dafür aber nicht vom Spin ab.

  2. #2 KommentarAbo
    November 22, 2010

  3. #3 Janik Kailasvuori
    November 25, 2010

    Die Abschnitte über den Quanten Hall Effect in dem Artikel beziehen sich in der Tat auf zweidimensionale (im Text nicht gennante) Systeme (wie GaAs-Heterostrukture oder Graphene) und soll nicht mit den Abschnitten über die dreidimensionale Spin-Eis-Materialien gewechselt werden.

  4. #4 Butterblume
    Dezember 4, 2010

    Wenn man den Motorblock thermisch isoliert, wird das Herr Carnot nicht gerne hören.