Da sich die seit Tagen knisternde Spannung, die wir mit unserem Sommerrätsel erzeugt hatten, inzwischen ins Unerträgliche gesteigert hat, ist es Zeit, das Rätsel aufzulösen.

Unsere Stammleser erinnern sich: Am Donnerstag der vergangenen Woche ging unser durch zwei Leserbriefe in der Kleinen Zeitung inspiriertes Sommerrätsel online. Herr Samonig hatte in seinem Leserbief ein physikalisches Phänomen geschildert:

Gegenstände, die man an einem Faden aufhängt, beginnen zu rotieren. Dies kann mit einer Kaffeeschale demonstriert werden: […] Der Drehsinn – vom Aufhängepunkt aus betrachtet, gegen den Uhrzeiger – ändert sich nicht, wenn man den Faden umdreht. Der Effekt ist dort und da wohl schon beobachtet worden, ich bin mir aber nicht sicher, ob er in der physikalischen Fachliteratur Beachtung gefunden hat. Um Hinweise wird gebeten.

Herr Rittmann hatte wenige Tage später in einem Leserbrief folgende Erklärung angeboten:

Der Auslöser für den beschriebenen Effekt ist die so genannte
“Coriolis-Kraft”. […]

Wir haben festgehalten, dass das beschriebene Phänomen tatsächlich existiert und daran vier Fragen angeschlossen:

  1. Stimmt es, dass sich die Drehrichtung der Kaffeeschale nicht ändert, wenn man den Faden umdreht?
  2. Stimmt es, dass die Drehung von oben betrachtet stets gegen den Uhrzeigersinn erfolgt?
  3. Ist die Erklärung von Herrn Rittmann korrekt?
  4. Falls nein, wie lautet die korrekte Erklärung für das beschriebene Phänomen?

Die meiner bescheidenen Meinung nach richtigen Antworten auf diese Fragen sind die folgenden:


1. JA, das ist richtig. Die Drehrichtung bestimmt sich aus der Chiralität oder “Händigkeit” des Fadens (siehe 4.).

Das
hat Kommentator Fischer als erster und auch völlig korrekt
festgestellt. Aus der Chiralität des Fadens folgt, dass es – wie JLT es
ausdrückt – beim Faden “kein ‘oben’ oder ‘unten’ [gibt]”. Für
Theoretiker wie Florian ist ein Faden ein eindimensionales Objekt.
Daraus folgt zwar ebenfalls, dass es egal ist, wie man den Faden hält
(Punktsymmetrie bzgl. des Fadenmittelpunkts!), allerdings erzeugt das
Modell des eindimensionalen Fadens gewisse Schwierigkeiten damit,
überhaupt eine Drehung zu begründen.

2. NEIN, das ist falsch.
Wie aus 1. in Kombination mit 4. hervorgeht, hängt die Drehrichtung,
wie bereits von Fischer gemutmaßt, davon ab, wie der Faden bei der
Herstellung gedreht bzw. “geschlagen” wurde.

Eine ausführliche
Schilderung dieses Vorganges lieferte Mimus Vitae. Laut Wikipedia
werden Zwirne üblicherweise links gedreht, Einfachgarne hingegen
rechts. Die häufige Beobachtung von gegen den Uhrzeigersinn rotierenden
Kaffeetassen deutet darauf hin, dass die Experimentatoren zu
gewöhnlichem Zwirn gegriffen haben. Experimente mit ungedrehten Fäden
wie etwa Drachenleinen aus Nylon ergaben erwartungsgemäß gar keine
Drehung. Wie es mit Spinnenfäden aussieht – eine von Andreas Kyriacou
aufgeworfene Frage – ist noch Gegenstand aktueller Forschungen.

Es
muss hierzu bemerkt werden, dass Frage 2 im Grunde von Theoretikern (wie mir) durch bequemes googeln einer plausiblen Lösung
zugeführt werden kann. Als vorbildlich sind dagegen freilich erst jene
Forscher zu nennen, die wie Fischer und JLT zur Bestätigung bzw.
Falsifizierung ihrer Hypothesen echte Experimente durchführen. Das
Experiment von Fischer lieferte neben Teeflecken wertvolle Hinweise
bzgl. der Drachenleine, leider ist die initiale Drehbewegung mangelhaft
dokumentiert. Das Experiment von JLT ist gut dokumentiert, leidet aber
unter einem zu kleinen sample (n = 3). Außerdem ist es offenbar
unverblindet durchgeführt worden und daher sind die Ergebnisse
möglicherweise verzerrt (Experimentator-Effekt!). Eine systematische Forschungsexpedition in die Südsee, wie von Florian beantragt, wurde von der Gesellschaft für kritisches Denken ausführlich geprüft, mangels Budgets allerdings schlussendlich verworfen (sorry, Florian).

Wie auch immer, das unabhängige
Schiedsgericht (also ich) hat beschlossen, die Existenz von im
Uhrzeigersinn drehenden Kaffeeschalen vorläufig trotz fehlender
experimenteller Belege anzuerkennen. Über Teeschalen wird noch beraten.

3. NEIN, diese Erklärung ist falsch.

Erstens sind in diesen kleinen
Dimensionen jegliche theoretischen Effekte der Coriolis-Kraft
vernachlässigbar. Zweitens gibt es hier nicht einmal theoretisch zu
erwartende Effekte, da eine Bewegungskomponente der Kaffeeschale in
Nord-Süd-Richtung nicht auftritt. Über einen anderen fälschlich der
Coriolis-Kraft zugeschrieben Effekt, auf den auch Rincewind anspielt,
hat Christoph Drösser bereits vor elf Jahren in der ZEIT berichtet.

4. Die korrekte Erklärung wurde von den Kommentatoren in verschiedener, aber im Grunde übereinstimmender Weise dargelegt.

Die Diskussion über den physikalischen Fachbegriff dauert noch an,
vorgeschlagen wurden Entdröselung (JLT) bzw. Aufdrillung (Rincewind)
der ineinander verdrehten Einzelfäden (siehe 2.), zu ergänzen wäre
allenfalls noch Entzwirbelung. Die dahinter stehende Kraft ist
zweifellos
die Gravitation. Menschliche Biofelder wurden nicht diskutiert.
Unbestritten ist auch, dass das durch die Aufdrillung erzeugte
Drehmoment der Schale dazu führt, dass diese über die
Gleichgewichtslage hinaus rotiert, die Drehrichtung ändert und so
weiter, bis sie schließlich durch Reibungskräfte zum Stillstand kommt.
Kurz gesagt, aus der Kaffeeschale wird ein Torsionspendel.

Schlussendlich muss bemerkt werden, dass beinahe jedes Kind das
beobachtete Phänomen sogar bereits am eigenen Leib erfahren hat. Wie
aufregend war es doch, die Schaukel am Spielplatz zweckzuentfremden und
statt brav hin und her zu schaukeln mehrere Drehungen um die senkrechte
Achse zu vollführen um sich dann den im Zuge der Aufdrillung
entstehenden Fliehkräften hinzugeben! (Achtung Kinder: Nicht
nachmachen, kann böse enden!)

Ich denke, das Rätsel ist somit hinreichend geklärt, und nach Durchsicht aller Antworten stellt das Schiedsgericht fest:

Fischer ist der Retter der Kleinen Zeitung!

Wir gratulieren herzlich! Und jetzt schreiben wir einen Leserbrief…

Kommentare (13)

  1. #1 Ulrich Berger
    14. August 2008

    PS: ScienceBlogger wissen natürlich, wer “Fischer” ist, man sollte dieses Wissen aber nicht bei allen Lesern voraussetzen. Also:

    Der Gewinner ist Lars Fischer vom (übrigens sehr empfehlenswerten) Fischblog, der auch als “Godwael” postet: https://fisch-blog.blog.de/

  2. #2 Fischer
    14. August 2008

    Juhu! Hab ich jetzt was gewonnen? Und kann ich überhaupt sicher sein, dass es eine gute Idee war, die Kleine Zeitung zu retten, oder wird mir das jetzt eventuell den Rest meines Lebens zum Vorwurf gemacht? 😉

  3. #3 Ulrich Berger
    14. August 2008

    Du hast natürlich etwas gewonnen – den schönen Ehrentitel “Retter der Kleinen Zeitung”! (In Österreich sind Titel statt Geld eine altbewährte Tradition.)
    Die Kleine Zeitung zu retten ist zwar nicht ganz so ehrenhaft, wie die NZZ zu retten. Aber so schlimm wie Dr. Berndt meinte, ist es dann vielleicht doch nicht…

  4. #4 JLT
    14. August 2008

    Meinen Glückwunsch an Fischer!
    Ich behaupte aber natürlich immer noch, dass die Verwendung einer Teetasse für seinen Versuch nicht den Regeln entsprach. 😉

  5. #5 Ronny
    14. August 2008

    @Fischer, Hmm, sei aber vorsichtig. Man hat Hrn. Grander seinen Ehrentitel nicht abererkannt obwohl nachgewiesen wurde dass nichts dahintersteckt, vielleicht bedeutet das jetzt im Umkehrschluss, dass man FÜR wissenschaftliche Leistungen einen Ehrentitel wieder aberkannt bekommt 😉
    Wollt ihr noch ein Rätsel ?
    Entfernt sich der Mond von der Erde ? gleich ? kommt näher ?

  6. #6 Fischer
    14. August 2008

    @ Ulrich Berger:
    Gibt es dafür ne Abkürzung, die ich mir auf die Visitenkarte drucken kann?
    “Rt. d. Kl. Z. Dipl.-Chem. Lars Fischer” hat schon einen gewissen Klang… Ich fürchte aber, mir als Hanseat ist es nicht erlaubt, irgendwelche Orden und Ehrentitel anzunehmen.

    @ JLT:
    Da müsstest du letzt aber nachweisen, dass Tee- und Kaffeetassen physikalisch nicht äquivalent sind…

    @Ronny:
    So viele Ehrentitel hab ich noch nicht, dass ich mir darum sorgen machen müsste…

  7. #7 Rincewind
    14. August 2008

    Glückwunsch an Fischer! Und natürlich auch an das souverän kommentierende Schiedskomitee.

    Allerdings möchte ich zu Punkt 2 noch einen Einwand bringen: Die Drehrichtung ist nicht von der Garnart abhängig, sondern von der Richtung, in welcher das Garn aufgehängt wurde, sprich, die Drehrichtung dreht sich um, wenn man unten und oben am Garnstück wechselt.

    Dazu darf ich ein einfaches Experiment vorschlagen: Man nehme eine Flasche mit Drehverschluss, bevorzugt eine leere. Man schaue von oben darauf und merke sich die Drehrichtung beim öffnen. Dann drehe man die Flasche auf dem Kopf stehend und betrachte wieder die Drehrichtung. Sie ist umgekehrt.

    Das ist jetzt das Mittelding zwischen Theorie und Praxis 😉

  8. #8 Fischer
    14. August 2008

    @ Rincewind
    Tja, aber das ist nicht äquivalent. Du willst ja wissen, in welche Richtung sich jeweils das untere Ende dreht. Wenn du die Flasche mit dem Deckel nach oben hältst, musst du also die Drehrichtung der Flasche betrachten und nicht die des Deckels.

    Das ist jetzt Praxis.

    Oder auch: Eine Helix ist immer nur entweder rechts- oder linksgängig, egal wie rum man sie betrachtet.

    Das war jetzt die Theorie.

    :-p

  9. #9 Rincewind
    15. August 2008

    @Fischer: OK, gebe mich geschlagen, und betone, dass Du den Preis zurecht gewonnen hast 😉

  10. #10 Fischer
    15. August 2008

    Du hast mich ganz schön erschreckt, einen Moment lang habe ich gedacht ich hätte völligen Unsinn erzählt…

  11. #11 Rincewind
    16. August 2008

    … und ich hatte das dumpfe Gefühl, dass an meinem Experiment was nicht stimmt. Man kann das also als Sieg der fundierten Theorie verbuchen 😉

  12. #12 Klaus
    18. August 2008

    Info:
    Der Leserbrief (bzw.die Entdröselung des Rätsels) wurde am 17.08 in der Kleinen Zeitung veröffentlicht!

  13. #13 Ulrich Berger
    18. August 2008

    Danke für den Hinweis, das hat einen eigenen Eintrag verdient:
    https://www.scienceblogs.de/kritisch-gedacht/2008/08/sommerraetsel-reloaded.php