Frau Thorbrietz hat die auf Facebook begonnene und auf meinem Blog
weitergeführte Diskussion in den Kommentaren sachlich fortgesetzt, wofür ich mich bedanke. Aus Gründen
der Übersichtlichkeit habe ich ihre Antworten herauskopiert und möchte
hier wiederum dazu Stellung beziehen.
Legende: PT … Petra Thorbrietz, UB … Ulrich Berger
PT:
Zurück von einer Reise kann ich erst jetzt auf die Kommentare von @Ulrich Berger zu meinem früheren Statement antworten:
1. Eine Korrektur zum meinem Edzard Ernst Zitat: Es war ein Fehler,
die Auflage des Buches von Edzard Ernst nicht noch einmal überprüft zu
haben. Dennoch interpretiere ich die Studienlage zur Homoöpathie – um
die es in meinem GEO-Artikel übrigens explizit nicht (oder nur in einem
Kasten am Rande) geht – in der Gesamtschau so, dass sie in ihren
Ergebnissen widersprüchlich bleibt. Selbst in der von Ihnen zitierten
„State of the art”-Metaanalyse von Shang et al. im Lancet
räumen die Autoren 2005 ein: „We acknowledge that to prove a negative
is impossible, but we have shown that the effects seen in
placebo-controlled trials of homoeopathy are compatible with the placebo
hypothesis.” Das ist für mich weiterhin der aktuelle wissenschaftliche
Stand der Debatte: Der Nichtbeweis einer Wirksamkeit ist nicht
automatisch der Beweis einer Unwirksamkeit. („Absence of evidence is not
evidence of absence”): „We emphasise that our study, and the trials we
examined, exclusively addressed the narrow question of whether
homoeopathic remedies have specific effects. Context effects can
influence the effects of interventions, and the relationship between
patient and carer might be an important pathway mediating such effects.
Practitioners of homoeopathy can form powerful alliances with their
patients, because patients and carers commonly share strong beliefs
about the treatment’s effectiveness, and other cultural beliefs, which
might be both empowering and restorative. For some people, therefore,
homoeopathy could be another tool that complements conventional
medicine, whereas others might see it as purposeful and antiscientific
deception of patients, which has no place in modern health care.”
Es geht und ging bei der Homoöpathie und anderen Verfahren der
komplementären Medizin nie allein um deren pharmakologische Wirkungen im
engeren Sinne. Seit dem Lancet-Review von 2005 ist die Debatte zudem
weiter gegangen, siehe etwa die Kritik von Lüdtke et al. aus dem Jahr
2008
oder auch neuere Ansätze für komplexe Studiendesigns von Teut et al. im
Jahr 2010. So wie
ich den Stand der Diskussion interpretiere, pendelt die Studienlage zur
Homoöpathie derzeit zwischen knapp über und knapp unter einer
Placebo-Wirkung. Ob das weitere Forschung rechtfertigt, mag jeder selbst
beurteilen. Mich als Journalistin faszinieren die Arbeiten des
Placebo-Forschers Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School, der in
methodisch ausgefeilten klinischen Studien (eine Liste der Studien
finden sich hier)
die rituellen Wirkungen von therapeutischen Interventionen wie etwa
einer Akupunktur erforscht: „This research also suggests that ritual
healing not only represents changes in affect, self-awareness and
self-appraisal of behavioural capacities, but involves modulations of
symptoms through neurobiological mechanisms. Recent scientific
investigations into placebo acupuncture suggest several ways that
observations from ritual studies can be verified experimentally. Placebo
effects are often described as ‘non-specific’; the analysis presented
here suggests that placebo effects are the ‘specific’ effects of healing
rituals.“
UB:
Sie schreiben, für Sie sei der aktuelle wissenschaftliche Stand der Debatte: Der Nichtbeweis einer Wirksamkeit ist nicht
automatisch der Beweis einer Unwirksamkeit. Letzteres ist zwar
richtig, aber keineswegs der wissenschaftliche Stand irgendeiner
Debatte, sondern eine alte Binsenweisheit. Leider taugt sie nicht als
positives Argument, denn auch der bislang fehlende Nachweis der Existenz
des Yeti ist zwar tatsächlich kein Beweis seiner Inexistenz, doch
trotzdem würde wohl kein seriöser Wissenschaftler deshalb meinen, es
stünde fifty-fifty, dass er existiere. Und das, obwohl immer
wieder Zeugenaussagen sowie angebliche Fußspuren und Fellreste
auftauchen. Warum wird der Yeti in den Naturwissenschaften dann
eigentlich nicht ernsthaft diskutiert? Weil seine Existenz nicht in das
gesicherte Wissen passt, das wir über Biologie haben! Mit anderen
Worten: Die a priori Wahrscheinlichkeit der Existenz des Yeti ist so
gering, dass auch ein paar Dutzend schwache Indizien niemanden ernsthaft
davon überzeugen könnten. Der Clou an diesem Beispiel ist, dass eine
spezifische Wirksamkeit von homöopathischen Hochpotenzen eine noch um
vieles geringere a priori Wahrscheinlichkeit hat als die Existenz des
Yeti.
Sie meinen, es ginge bei der Homoöpathie und anderen Verfahren der
komplementären Medizin nie allein um deren pharmakologische Wirkungen im
engeren Sinne? Da möchte ich vehement widersprechen. Bei der Kritik
an der Homöopathie geht es genau darum. Wenn eine solche Wirkung nicht
vorhanden ist, dann sprechen wir von Placebo-Effekten. Alleine das Wort
“Placebo” ist für die allermeisten Homöopathen (und andere
Alternativmediziner) aber ein rotes Tuch. Warum? Weil sie, wenn sie
einräumen
würden, dass sie ein Placeboverfahren praktizieren, vor einem
gewaltigen ethischen Problem stehen würden. Kann man den systematischen
Einsatz von Placebotherapien samt der inkludierten Patiententäuschung
und dem verdummenden Kollateral-Hokuspokus (“Quantenmedizin” etc.) damit
rechtfertigen, dass man in der Lage sei, subjektive
Symptome zu lindern? Wie soll die Ausbildung in Placeboverfahren
ablaufen – soll man die Auszubildenden auch täuschen, oder nur die
Patienten? Soll man das mit Steuergeld tun? Ich meine dreimal nein, aber
diese Debatte hat noch nicht einmal
begonnen, weil Homöopathie & Co. strikt darauf beharren, dass ihre
Kügelchen, Bachblüten und Heilkristalle ganz real wirksam seien und ihre
Erfolge natürlich keine Placeboeffekte sein können.
Seit dem Lancet-Review von 2005 ist die Debatte zudem
weiter gegangen, sagen Sie. Das ist sie tatsächlich, aber starke
positive Evidenz für Homöopathie ist immer noch keine aufgetaucht – wie
die 200 Jahre davor. Die Arbeit von Lüdtke und Rutten (2008), die Sie
anführen, hat die Resultate von Shang (2005) im wesentlichen bekräftigt
und stößt sich eher an der Interpretation dieser Resultate in den Medien
und im Lancet-Editorial. Auch diese Studie wurde von CAM-Seite und in
vielen Medien kräftig fehlinterpretiert. Genaueres dazu finden Sie bei
Bedarf in diesem Blog und in einer Diskussion, die ich mit Herrn Lüdtke
selbst dazu geführt habe. Der Artikel von Teut (2011), den Sie
verlinken, ist wiederum einigermaßen off-topic, da er nur ein
Designkonzept ist (kein aufregend neues übrigens) und die Frage der
Wirksamkeit der Homöopathie überdies gar nicht berührt.
PT:
2. Sie schreiben, es sei falsch, dass die im GEO-Text zitierte
Akupunktur-Studie (Modellvorhaben der Techniker-Krankenkasse) zeige,
„dass Akupunktur wirksam, sicher und kosteneffektiv ist.” Dazu die
Autoren im Ärzteblatt: „Die Ergebnisse zeigen, dass Akupunktur für die untersuchten
Indikationen in der Routineversorgung eine wirksame und sichere
Behandlungsmethode ist. Inwieweit Akupunktur primär über spezifische
oder unspezifische Mechanismen wirkt, scheint diagnoseabhängig und
sollte weiter untersucht werden. Die zusätzliche Behandlung mit
Akupunktur war zwar teurer, aber unter Annahme international üblicher
Schwellenwerte kosteneffektiv.“
Noch eine Anmerkung zu Ihrer Selbstsicherheit in der Terminologie: „Effectiveness ist nicht gleich Wirksamkeit.”
Dass der Begriff vielseitig interpretiert wird, beschreibt Jürgen
Windeler, Chef des IQWiG (und Mitglied im GWUP):
„Eine Recherche zur Definition und zur Unterscheidung der beiden
Begriffe „Efficacy” und „Effectiveness” führt zunächst zu einem
bemerkenswerten Ergebnis: Standardlehrbücher widersprechen sich
gravierend und entsprechen zudem nicht einer andernorts zu findenden und
häufig geäußerten Interpretation, dass nämlich Efficacy die Wirksamkeit
einer Behandlung in der „Kunstwelt” kontrollierter Studien (unter
Idealbedingungen) beschreibe, die Effectiveness dagegen die Wirksamkeit
in der routinemäßigen Anwendung (unter Alltagsbedingungen).“
UB:
Sie zitieren das völlig richtig: “in der Routineversorgung … wirksam“.
Und das ist genau jenes Konzept, das von denselben Autoren im englischen Text
als “effectiveness” bezeichnet wird, also jenes, das
unspezifische Effekte wie Placeboeffekte mit einschließt! Hingegen
richtet sich die Kritik von Wissenschaftlern gegen die oft behauptete
“efficacy”, die hier nur die spezifische Wirksamkeit – also über Placebo
hinaus – meint. Es ist eine unzulässige Vermischung, beide Konzepte
pauschal als “Wirksamkeit” zusammenzufassen, da sie unterschiedliche
Dinge meinen. Dass CAM-Proponenten wie Witt und Willich eine solche
Bezeichnung wählen (siehe Titel des Artikels und zum Vergleich den
englischen Untertitel) ist ja genau eines der Dinge, die wir
kritisieren. Denn diese unzulässige Vermischung der beiden Konzepte wird
von der Presse übernommen und führt beim Leser zur Konfusion. Der
(gebildete) Leser versteht unter “Wirksamkeit” ohne einschränkende
Erläuterung normalerweise eine spezifische Wirksamkeit (ansonsten müsste er
auch Placebos für “wirksam” halten) – also genau das Gegenteil dessen, was gemeint
ist.
Den Text von Windeler und Antes (2007) kenne ich natürlich, und schauen Sie einmal, was die beiden am Ende schreiben: “Jeder
Benutzer dieser Begriffe sollte sich aber über die Vielfalt klar sein
und jedenfalls selbst genau verstehen, unter welcher Definition er/sie
die Begriffe benutzt.” Aus dem Akupunkturbericht ist klar
ersichtlich, wie die Begriffe gemeint sind, und ebenso habe ich sie verwendet. Aus Ihrem Text liest man die
gegenteilige Bedeutung heraus. Das mag der Notwendigkeit der
Vereinfachung in einem journalistischen Text geschuldet sein, aber im
Endeffekt ist es doch irreführend.
PT:
3. Die Gerac-Studie (German Randomized Acupuncture Trials) war eine
methodisch sehr aufwendige Studie, bei der insgesamt über 500 000
Patienten erfasst wurden. Ihre Ergebnisse haben weltweit Beachtung
gefunden. Sie wurde von der Abteilung für Medizinische Informatik,
Biometrie und Epidemiologie der Ruhr Universität Bochum koordiniert und
von Wissenschaftlergruppen an vier weiteren Universitäten (Heidelberg,
Regensburg, Essen, Bochum) durchgeführt. Prof. Dr. rer nat. Hans-Joachim
Trampitsch (Ruhr-Uni Bochum) nennt sie anlässlich des von ihm betreuten
Migräne-Teils „die größten und methodisch strengsten
Akupunkturstudien, die (…) in der westlichen Welt jemals durchgeführt
worden sind. Sie liefern jetzt Daten von bisher nicht gekannter
Qualität.”
Sie erwecken in Ihrem Kommentar den Eindruck, bei der Indikation
Rückenschmerz sei die Kontrollgruppe mit der Standardtherapie eine
„massiv selektierte Gruppe” gewesen, die deshalb auf die
Standardtherapie schlechter angesprochen habe. Das stimmt nicht:
An dem Forschungssetting Rückenschmerz nahmen 1162 Patienten teil, die
ALLE seit mindestens sechs Monaten (im Mittel seit acht Jahren)
Kreuzschmerzen hatten. Je ein Drittel der Patienten erhielt zehn jeweils
30-minütige Behandlungen mit TCM-Akupunktur (Einstichtiefe der Nadeln: 5
bis 40 mm) oder mit Sham-Akupunktur (Nadelung an
Nicht-Akupunkturpunkten und Einstichtiefe nur 1 bis 3 mm) oder eine
leitlinienbasierte Standardbehandlung aus Pharmakotherapie und
nicht-medikamentösen Maßnahmen. Als Ansprechen auf die Therapie war ein
Rückgang der Schmerzen um mindestens 33 Prozent sowie eine Verbesserung
der rückenspezifischen Funktionseinschränkungen um mindestens 12 Prozent
nach sechs Monaten definiert (Arch Intern Med 167, 2007, 1892).
Die eigentliche Sensation der Akupunkturstudien war, dass sich die
Verum- in vielen Fällen kaum von der Schein-Akupunktur unterschied (wie
im Artikel beschrieben), was in der internationalen Fachwelt zu einer
ganz neuen Diskussion über den Placebo-Begriff führte. Viel spannender
als die Frage, warum die punktgenaue Akupunktur nicht besser war als
eine Sham-Akupunktur, ist die Frage, warum BEIDE Wirkung hatten.
Auch in diesem Zusammenhang möchte ich auf eine aktuelle Studie „Active
albuterol or placebo, sham acupuncture, or no intervention in asthma”
aus der Arbeitsgruppe von Ted Kaptchuk verweisen, die nach dem
Erscheinen meines GEO-Artikel im New England Journal of Medicine
erschien.
UB:
Da haben
Sie mich falsch verstanden. Natürlich unterlagen ALLE Patienten
denselben Einschlusskriterien. Und die durchschnittlich 8 Jahre
chronische Rückenschmerzen betrafen ALLE Patienten in der Studie. Das
heißt, ALLE Patienten in der Studie waren massiv selektiert: eben
solche, die nicht oder schlecht auf Standardtherapie ansprechen UND noch
nie Akupunktur probiert hatten UND bereit waren, Akupunktur zu
versuchen. Noch dazu wurde den Akupunkturgruppen auch ein bisschen
Standardtherapie parallel erlaubt. Und dann behandelt man eine
“Kontrollgruppe”, die aus solcherart selektierten Patienten besteht, mit
Standardtherapie. Dass diese Kontrollgruppe dann deutlich schlechter
abschneidet als jene, die die neuartige Prozedur (Akupunktur oder
Scheinakupunktur) bekommt, in die die Patienten ihre Hoffnung gesetzt
haben, ist wenig verwunderlich. Gottseidank sprechen aber viele
Kreuzschmerz-Patienten auf Standardtherapie recht gut an (ich z.B.), und
für diese ist die Behauptung wie sie in GEO zu lesen war, Akupunktur
sei deutlich wirksamer als Standardtherapie, schlicht nicht zutreffend –
selbst dann nicht, wenn man “wirksam” hier im unspezifischen Sinn
auffasst!
Sie zitieren auch die neue Asthma-Studie von
Kaptchuk, aber mir ist nicht klar, zu welchem Zweck. Diese Studie zeigt
nämlich sehr deutlich, dass Placebotherapien wie (Schein-)Akupunktur
oder Placebosprays zwar wie Albuterol die subjektiven Symptome lindern
können, im Gegensatz zu diesem aber nicht die tatsächliche
Lungenfunktion verbessern. Die Studie spricht also gegen den Einsatz von
Akupunktur (auch wenn Kaptchuk sich bemüht hat, die Daten
TCM-freundlicher zu interpretieren als sie sind).
PT:
4. Der Kaptchuk-Versuch ist von mir nicht fehlinterpretiert worden.
Das Wort Attrappe wurde lediglich gewählt, um die ständige Wiederholung
der Worte Scheinmedikament und Placebo zu vermeiden. Der Versuch ist
klar beschrieben, und ich denke, die Leser verstehen, was gemeint ist –
auch wenn hier kein wissenschaftlich präziser Begriff verwendet wurde.
UB:
Mag sein, dass hier lediglich ein
semantisches Problem vorliegt. Trotzdem: Dass diese Studie “die
ärztliche Welt auf den Kopf gestellt” haben soll, wie Sie schrieben,
halte ich für maßlos übertrieben.
PT:
5. Zu Ihrem Punkt über die Schwarzen Listen und Herrn Kaptchuk:
Natürlich gibt noch mehr Stellen, die mir immer wieder begegneten. Vor
allem aber habe ich mit Ted Kaptchuk persönlich im Interview in Boston
über seine Erfahrungen gesprochen. Ich hatte in meiner ersten
Stellungnahme bereits deutlich gemacht, dass die „Schwarzen Listen” für
mich ein Synonym für die besondere kritische Beobachtung eines Forschers
sind, der sich in Grenzbereiche der Medizin vorwagt mit seinen
Forschungen.
UB:
Sie bezeichnen die “Schwarzen Listen“, mit denen quackwatcher ihre “Feinde verfolgen”
als ein Synonym für “besondere kritische Beobachtung”? Das ist meines
Erachtens der Versuch, sich oder unseren Lesern hier diese Ausdrücke
schönzureden. Ich denke, man muss kein Sprachwissenschaftler sein, um zu
vermuten, dass der typische GEO-Leser spontan eher die ursprüngliche
Bedeutung des Begriffs assoziiert, nämlich “Todeslisten”.
PT:
6. Ihren Punkt, wonach ich im Zeichen der Ausgewogenheit einen
kritischen Wissenschaftler hätte befragen sollen, teile ich nicht. Was
hätte der denn bekritteln sollen? Das Evidenzparadigma, das als Basis
der Arbeit der Integrativen Medizin beschrieben wurde und Thema des
gesamten Artikels war? Es mag ja sein, dass Ihnen Forscher an der
Harvard Medical School, des Sloan Kettering Cancer Center und das NIH
als Forschungszentren für Integrative Medizin nicht als Referenz für
Wissenschaftlichkeit reichen. Mein Eindruck bei den Recherchen in den
USA aber war ein anderer.
UB:
Was
ein kritischer Wissenschaftler an der “Integrativen Medizin” hätte
bekritteln sollen? Vielleicht, dass dieser Ausdruck nichts mit dem
“Evidenzparadigma” am Hut hat, sondern lediglich das jüngste Produkt
jener Euphemismus-Tretmühle ist, die seinerzeit “Alternativmedizin”,
dann “Komplementärmedizin” und später “Holistische Medizin” ausgespuckt
hat. Oder er hätte die Frage stellen können, ob man TCM-interessierte
Ärzte dazu verpflichten soll, sich in der Ausbildung ein Jahr lang den
Verlauf von inexistenten “Meridianen” einzuprägen und die genaue
Position von unzähligen “Akupunkturpunkten” auswendig zu lernen, wenn
man inzwischen längst weiß, dass es egal ist, wohin man sticht. Aber
allein diese Frage hätte womöglich einen Schatten auf das schöngefärbte
Bild der “Integrative Medizin” geworfen, wie sie im GEO zu lesen war.
Was
Sie mit diesem Harvard-etc.-namedropping sagen wollen, weiß ich nicht.
Meinen Sie etwa, weil die Harvard Medical School die Homöopathie
erforscht, muss Homöopathie “wissenschaftlich sein”?
Um ein
Sittenbild der “Integrativen Medizin” zu erhalten, müssen Sie nicht in
die USA fliegen. Freiburg hätte es auch getan. Ich lade Sie herzlich
ein, sich anzusehen, wie dort “integriert” wird…
PT:
7.
Zu dem Vorwurf, ich hätte von Herrn Baum eine „böse Karikatur”
geliefert: Ich habe Herrn Baum lediglich beschrieben – diskreditiert
(als Arzt und Mensch) hat er sich selbst in seinem Wutausbruch
anlässlich des Statements einer betroffenen Krebspatientin. Das hat
überhaupt nichts mit der Tatsache zu tun, dass er ein renommierter
Forscher ist. Aber das reicht nicht immer aus. Wissenschaft ist wichtig,
aber nicht alles.
UB:
Sie haben nicht Herrn Baum
beschrieben, sondern seinen Wutausbruch. Er ist der einzige kritische
Wissenschaftler, der in Ihrem Artikel vorkommt, nur darf er leider
nichts zum Thema sagen, sondern nur ganz zu Beginn jemanden anfauchen,
damit das Feindbild von Anfang an klar ausgemacht ist. Hätten Sie Baum
ernsthaft interviewt, dann hätte Ihr Artikel vielleicht nicht die starke
Schlagseite bekommen, die er jetzt hat.
PT:
Viele Kritiker werfen mir vor, ich hätte wissenschaftliche Fakten
unterschlagen oder bewusst verzerrt, um für in ihrer Sicht
unwissenschaftliche Therapien zu werben. Einige (wer wohl??) gingen
sogar soweit, Texte von mir in Esoterikforen zu posten und das so
aussehen zu lassen, als hätte ich das getan. Das ist kriminell.
UB:
Das glauben Sie tatsächlich? Also haben diese na-wer-wohl-Kritiker in einem Anfall von Präkognition bereits im Juli 2009 Ihre Artikel ins Esoterikportal gepostet, um Sie zwei Jahre später damit diskreditieren zu können???
PT:
Ich bin
keine Gegnerin der sogenannten Schulmedizin und in keinster Weise
wissenschaftsfeindlich. Aber ich bin gegen diesen
Wissenschaftspositivismus, der in manchen Foren um sich greift. Und als
Journalistin betrachte ich die Medizin vor allem aus der Sicht der
Patienten (siehe auch mein Buch „Leben bis zum Schluss”).
Nur ein Beispiel: 70 Prozent der Krebspatienten zum Beispiel (sagt nicht die „CAM-Seite”, sondern die Deutsche Krebshilfe, interessiert sich im Laufe ihrer Behandlung für Naturheilverfahren, und
viele verwenden sie, ohne mit ihrem Arzt darüber zu sprechen. Sie haben
Angst vor Ablehnung. Die unsachgemäße Verwendung kann aber riskante
Folgen haben und die onkologische Therapie beeinträchtigen. Jede dritte
Frau mit einer Antihormonbehandlung bei Brustkrebs bricht ihre
lebenswichtige Therapie ab, weil sie die Nebenwirkungen nicht erträgt –
denn dazu fällt der Onkologie nicht viel ein – das hatte die im Text
zitierte Patientin gegenüber Herrn Baum kritisiert. Mit Hitzewallungen
und Gelenkschmerzen muss sich die Onkologie vielleicht auch gar nicht
beschäftigen, wenn sie stattdessen mit naturheilkundlichen Internisten
zusammenarbeitet, im Rahmen der Integrativen Onkologie. Akupunktur und
Entspannung helfen nämlich (evidenzbasiert – die Quellen dazu finden
Sie in Dobos/Kümmel: Gemeinsam gegen Krebs, München 2010). Was hilft
denn die ganze „rationale” Medizin und ihre Errungenschaften, wenn 30
bis 60 Prozent vieler wichtiger Medikamente einfach weggeworfen oder
falsch eingenommen werden? Es muss also noch etwas Zusätzliches geben in
der Medizin.
Davon handelte der Text – von Medizinern, die nicht nur die
wissenschaftliche Herausforderung und objektive Fakten, sondern auch die
total subjektiven Probleme und Bedürfnisse der Patienten ernstnehmen.
Und diese Patienten sind auch die Leser und Leserinnen von GEO.
UB:
Ich
habe da nicht viel einzuwenden. Was Dobos/Kümmel tun, ist am harmlosen
Ende von CAM angesiedelt. Ringelblumensalbe gegen
Strahlentherapie-bedingte Hautausschläge lockt keinen Skeptiker hinterm
Ofen hervor. Subjektive Symptome wie Übelkeit nach Chemotherapie mit
Akupunktur behandeln? Meinetwegen, aber warum nicht mit Scheinakupunktur
und sich die 240 Stunden Qi-Quatsch-Kurse sparen? Meditation,
Entspannung, achtsamkeitsbasierte Stressbewältigung um mit den
physischen und psychischen Begleiterscheinungen von Krebs besser zurecht
zu kommen? Kein Problem, aber muss man das “Integrative Medizin” oder
“Naturheilkunde” nennen? Früher hieß das Psychoonkologie, soweit ich
mich erinnere, aber womöglich klang das zu sehr nach Psychotherapie oder
Psychiatrie um sich durchzusetzen.
Ich meine übrigens, dass Sie
hier einen inneren Widerspruch konstruieren. Wenn diese Therapien
evidenzbasiert sind, wie Sie sagen, dann sind sie Teil dessen, was Sie
als “rationale Medizin” bezeichnen und kritisieren.
PT:
8. Zum Schluss möchte ich festhalten, dass der Debatte hier im Blog
offenbar unterschiedliche Interpretationen über die Aufgaben des
Journalismus zu Grunde liegen. Ich verstehe es nicht als meine
journalistische Rolle, mich als wissenschaftliche Expertin zu gerieren.
Journalismus ist für mich „truth seeking storytelling, primarily serving
citizen, without a legal foundation” (Quelle: Investigative Journalism
in Europa. Dick van Eijk (ed.), Vereiniging van Onderzoeksjournalisten,
VVOJ 2005). Ich will spannende Geschichten erzählen, Wissenschaft
untersuchen auf ihre Relevanz für die Gesellschaft, den Alltag. Sie
Menschen verständlich machen, die davon betroffen sind. Dabei müssen
natürlich die Fakten stimmen. Wem dabei nie ein Fehler unterläuft, werfe
den ersten Stein. Aber keine Geschichte ist „objektiv”, alle folgen
einer Idee, einem Erzählstrang, der sich natürlich durch Argumente
untermauern muss. Natürlich bemühe ich mich dabei, den journalistischen
Sorgfaltspflichten zu genügen, nichts zu verzerren, nichts
aufzubauschen, wahrhaftig zu bleiben. Journalistische Wahrhaftigkeit
aber kann nur in meiner Haltung und in meinem Bemühen liegen, keiner,
weder ich noch Sie als Wissenschaftler haben die Wahrheit gepachtet.
Auch in diesem Punkt bin ich persönlich anderer Ansicht als Michael Baum
(“evidence is truth”). Evidence is part of the truth. Wie alles im
Leben.
UB:
Was eine Verzerrung ist, liegt
wohl im Auge des Betrachters. Z.B. über Ihren “prominenten Vertreter der
Integrativen Medizin”, George Lewith, hat Esowatch ja schon folgendes
völlig richtig bemerkt:
ein “Vertreter der integrativen Medizin”, der seine eigenen Patienten verklagt, wenn sie ihn nicht für wirkungsloses Vodoo bezahlen wollen, seinen Patienten mit Studien als Beweis aufwartet, die genau das Gegenteil von dem sagen,
was er suggeriert und seinen Patienten Therapien andreht, die er vorher
in seiner offiziellen Funktion als “Vertreter der integrativen Medizin”
für wirkungslos erklärt hat.
Ich
möchte Sie einladen, diesen drei links wirklich einmal nachzugehen.
Dort zeigt Prof. David Colquhoun vom UCL deutlich auf, welch verlogene
Heuchelei und hinterhältige Abzocke sich hinter den salbungsvollen Reden
manch “Integrativen Mediziners” verbirgt. Das ist es, was Skeptiker so
wütend macht, wenn sie CAM-freundliche Texte serviert bekommen, denen
man die rosarote Brille des Verfassers auf jeder Seite anmerkt.
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