Indessen: das „vorherrschende Forschungsparadigma“ der kontrollierten Studie ist nicht ein willkürliches, auswechselbares Paradigma, sondern es ist synonym mit der Entwicklung der Therapie zur Wissenschaft. Die Alternative dazu ist nicht die „wissenschaftlich fundierte Aussage über den Einzelfall“, sondern die Beliebigkeit. Die Einteilung von Therapien in „langweilig/aufregend“ ist ein Novum, doch bleiben letzte Zweifel, ob sie sich gegenüber herkömmlichen Einteilungen wie z.B. in „wirksam/unwirksam“, „geprüft/ungesichert“ oder „riskant /nebenwirkungsarm“ durchsetzen wird.
Weiter im Walachschen Text:
„Patienten suchen Komplementärmedizin eben genau, weil sie sich mit ihren individuellen Anliegen bei konventionellen Ärzten nicht gesehen fühlen, das haben uns viele Studien gezeigt. Sie wollen, dass ihre seelische Situation berücksichtigt wird, dass man verschiedene Ebenen ihres Daseins bei der Behandlung mit einbezieht und eben genau nicht kompartimentiert. […] Ob jemand, der durch die derzeit übliche medizinische Ausbildung gegangen ist, überhaupt noch ganzheitlich denken, geschweige denn handeln kann ohne extensive Weiter- oder Rückbildung seiner ‚déformation professionnelle’, das sei einmal ganz dahingestellt.“ [5]
Was ist das eigentlich, das „Seelische“, in der Glaubensmedizin westlicher[6] Prägung? Es geht natürlich nicht um tatsächliche intrapsychische Vorgänge, sondern um die unreflektierte Vorstellung, die der Patient bzw. sein Therapeut von ihnen hat; häufig wird es sich um Fremdattribuierungen handeln. Der Kern dieser Art von Medizin ist es, Kapital aus den Fehlerwartungen des Patienten zu schlagen und diese in eine Richtung zu lenken, die den Absatz von Nahrungsergänzungsmitteln, Colostrum, Edelsteinen usw. bis hin zur Dreckapotheke (Excrementum caninum) möglich macht[7]. Wenn man eine medizinische Ausbildung durchlaufen hat, ist man jedenfalls besser in der Lage zu begreifen, welche Ansprüche realistisch sind und welche nicht. Es fällt dann schwerer, ein Potemkinsches Dorf aufzubauen, wo ein leerer Raum ist.
„Das implizite Maschinenparadigma, das seit Descartes die Medizin beherrscht, hat uns sehr gute Einsichten beschert, was die Funktionsweise des Körpers angeht. Seine umgekehrte Anwendung zur Behandlung von Störungen ist jedoch nur begrenzt erfolgreich. Zweifelsohne ist es sehr erfolgreich in der Akutversorgung, in der Notfallmedizin, Chirurgie und Hygiene. In anderen Bereichen, vor allem wenn es um chronisch funktionelle Störungen oder chronisch degenerative Erkrankungen geht, beeindruckt mich der sogenannte ‚medizinische Fortschritt’ nicht im Geringsten. Da könnte vermutlich die konventionelle Medizin mehr von den traditionellen Medizinsystemen lernen als umgekehrt.“
Das „Maschinenparadigma“ wird gern als Pappkamerad benutzt, um sich auf die Seite von Hamlet zu schlagen („Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als Eure Schulweisheit sich träumt“); das mitfühlende Herz gegen die seelenlose Apparatemedizin. Zweifellos gibt es Gefühlskälte in der Schulmedizin, doch sie ist nicht Folge der Wissenschaft. Auch die Dichotomie der Therapiewirksamkeit zwischen akuten und chronischen Erkrankungen hat keine empirische Basis: die akute Hirnmassenblutung ist trotz medizinischen Fortschritts weiterhin desaströs, und bei der chronischen Parkinsonkrankheit kann man mit Medikamenten sehr lange sehr gut helfen. „Chronische funktionelle Störungen“ sind somatoforme, mithin psychische Störungen, für die Psychotherapie die angemessene Therapieform wäre (merkwürdig, dass ein Psychologe dies ignoriert).
Was soll geschehen, oder vielmehr, nicht geschehen?
„Das Andere, das Widerständige soll ‚integriert’ und damit gezähmt werden. Durchs Zähmen wird es handhabbar. Die Fremdheit, das Wilde wird assimiliert und damit der vorherrschenden Denkschule einverleibt. […] Damit wird das eigentlich zum Widerspruch Reizende, das, was so fremd ist, dass man innehalten muss, banalisiert. Die gesellschaftlich-wissenschaftliche Funktion der Komplementärmedizin ist hingegen genau diejenige, immer das je Andere, und auch das noch ganz Andere der konventionellen Medizin zu sein. Nur so übt sie jenen Druck aus, der die vorherrschenden Konzepte zur Reflexion und die gängige Praxis zur Revision drängt. Eine Medizin ohne das Andere ist wie jede menschliche Praxis ohne Widerpart nicht nur langweilig, sondern zum inneren Tod verurteilt. Das je Andere, ganz Andere zwingt zur Auseinandersetzung. Diese ist Motor der Veränderung und des Wachsens.“
Auch hier wieder: was das „Andere“ nun genau ist, das bleibt vornehm im Dunkel. Durch die Überprüfung verlieren die Außenseitermethoden den Nimbus des Astralen und geraten in den Ruch des Gewöhnlichen (sofern sie diesen Waschgang überleben). So erklärt sich die plötzliche Sorge um die „konventionelle“ wissenschaftliche Medizin – sie ist der graue, eintönige Hintergrund, von dem sich das „Wilde, Ungezähmte“ vorteilhaft abheben soll. Doch ist diese Sorge unbegründet, denn schließlich ist auch die Physik nicht des inneren Todes gestorben, obwohl nach Kopernikus der Geozentrismus noch immer nicht wiedergekehrt ist. Ohnehin handelt es sich hier um eine rein rhetorische Volte, denn selbst wenn das – aussichtslose – Vorhaben gelänge, das bisherige „Andere“ zu verifizieren, würde der Nachschub an absurden Ideen nicht abreißen.
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