Ärzte Zeitung: Und was war das Umstrittene an Hahnemanns Konzept?
Jütte: Das bis heute wirklich Umstrittene sind die hohen Verdünnungen. Sie beruhen auf einem empirischen Zufallsfund Hahnemanns und sind das Ergebnis von Arzneimittelprüfungen an gesunden Menschen. Hahnemann stellte fest, daß der Effekt umso größer wurde oder sich sogar ein anderer Effekt ergab, je mehr er die pflanzlichen Giftstoffe verdünnte. Hingegen ist das Ähnlichkeitsprinzip auch in der heutigen Schulmedizin nicht mehr prinzipiell umstritten.“
In der Schulmedizin gibt es überhaupt kein „Ähnlichkeitsprinzip“ – die Aussage, es sei nicht umstritten, wäre also formal korrekt. Innerhalb der Homöopathie selbst aber ist man sich nicht ganz sicher[8]. Natürlich ließen sich Beispiele finden, aber niemand sonst würde auf die Idee kommen, eine Therapie für aussichtsreicher zu halten, weil sie der Krankheit „ähnlicher“ ist als eine andere. Einigkeit herrscht auch über die Arzneimittelprüfung beim Gesunden – nur geht es dabei um Sicherheit und Verträglichkeit, nicht um die Wirkung (klinische Phase I des heute üblichen Procederes für die Einführung von neuen Wirkstoffen). Auf die empirischen Befunde Hahnemanns kommen wir gleich noch zurück. Einstweilen ist noch klarzustellen, was das Wesen der Homöopathie ausmacht:
„Meiner Meinung nach kann es keine Homöopathie geben, die nicht auf den Prinzipien beruht, die von Hahnemann formuliert worden sind. … Schon zu Hahnemanns Lebzeiten gab es Dissidenten (die ‚schändlichen‘ Pseudo-Homöopathen in Leipzig, die von Hahnemann der medizinischen Ketzerei angeklagt wurden) … Hahnemann versuchte den Papst für seine Anhänger zu spielen, doch er war damit nicht erfolgreich, wie wir wissen … Die Homöopathie mit anderen Denkrichtungen oder gar mit der Allopathie zu vermengen … bedeutet, die homöopathische Identität zu verlieren. … Andererseits, es gibt nicht nur eine Wahrheit, weder in der Homöopathie noch in anderen therapeutischen Systemen. Schauen wir z. B. auf die Weltreligionen …“
Da es für Glaubenssysteme kein Außenkriterium gibt, ist die Entstehung von Sekten unvermeidlich. Jütte ist natürlich nicht der erste, dem sich der auf der Hand liegende Vergleich mit Religion aufdrängt: „Der eine oder andere wird wahrscheinlich mehr oder weniger verstört werden von den Anmaßungen jener Parodie der mittelalterlichen Theologie, die ihr Dogma von der Erbsünde in der Doktrin der Psora [das Hahnemannsche Krätze-Miasma, die wesentliche Ursache jeglichen Siechtums] findet, ihr Wunder der Transsubstantiation in dem Mysterium der Verreibung und Verdünnung, ihre Kirchgemeinde in Leuten, die ihr Jahrhundert verwechseln, und ihre Priester in jenen, die ihre Berufung verwechseln“[9].
Zunächst aber weiter mit den Erfolgen:
„Die Homöopathie hatte ihren Durchbruch und ihren Erfolg in der Seuchenbehandlung. Zu Beginn der 1830er Jahre fand die erste Cholera-Epidemie statt, der im Abstand von 15 bis 20 Jahren weitere Epidemien folgten. Und gerade bei der Cholera vermochte die Homöopathie erstaunliche Erfolge zu erzielen.
Der Grund für diesen Erfolg lag darin, dass Hahnemann bei der Bekämpfung der Seuche nicht das Falsche tat. Er zog den Cholerakranken, die durch Durchfall und Brechreiz unter Flüssigkeitsentzug litten, nicht mittels Aderlass noch zusätzlich Körperflüssigkeiten ab, sondern verabreichte ihnen Kampfer, versetzt mit Mineralbrunnenwasser, so dass sie eine Flüssigkeitszufuhr erhielten. Wo in den Cholera-Spitälern diese homöopathische Methode zur Anwendung kam, fielen die Mortalitätsraten wesentlich niedriger aus.“
Gesetzt den Fall, es stimmte[10], dann wäre es Behandlung durch Unterlassung von üblichen aber üblen Behandlungsversuchen gewesen, die Homöopathen hätten also aus Versehen das Richtige getan. Das hatte dann aber mit den homöopathischen Prinzipien nichts zu tun, außer vielleicht in der höchst dialektischen Weise, in der Adenauer mit dem Mauerbau zu tun hatte. Im Übrigen ist der Erfolg vieler schulmedizinischer Maßnahmen belegt nicht wegen, sondern trotz der ursprünglichen pathophysiologischen Annahmen. Das beginnt bereits mit James Lind und der Skorbutbekämpfung und reicht bis in die jüngste Vergangenheit. Der Unterschied zur Glaubensmedizin besteht darin, dass diese Annahmen später aufgegeben und durch tragfähigere ersetzt worden sind, mithin: sie wurden nicht kanonisiert, sondern einer Kritik ausgesetzt.
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