Daniel Kürner ist Skeptiker, studiert Medizinische Informatik an der TU Wien und arbeitet derzeit an seiner Diplomarbeit am Computational Imaging Research Lab der MedUni Wien. Hier ist sein Gastbeitrag.

 

Derzeit geistert eine Studie durch die internationalen Medien, die herausgefunden haben will, dass Handystrahlung die Spermienproduktion beeinträchtigt:

Haaretz, 08.02.2016: „Stark Correlation Found Between Heavy Cellphone Use and Male Infertility“, NDR, 19.02.2016: „Studie: Handy-Strahlung schädigt Spermien“, Mirror, 20.02.2016: „The mobile phone in your pocket could be COOKING your sperm“, Der Standard, 20.02.2016: „Studie: Handystrahlung schlecht für Spermienproduktion“, Heise.de, 20.02.2016: „Studie: Handystrahlung beeinträchtigt Spermienproduktion“, DRadio Wissen, 20.02.2016: „Smartphone: Strahlung schadet den Spermien“, Heute.at, 22.02.2016: „Handy-Strahlung verringert Spermien um die Hälfte“, Kurier, 22.02.2016: „Weniger Spermien durch Handystrahlung“, The Telegraph, 22.02.2016: „Mobile phones are ‘cooking’ men’s sperm“.

Die Studie selbst wurde bereits im September 2015 veröffentlicht:

Ein israelisches Forscherteam um Ariel Zilberlicht befragte darin 106 Männer nach ihrem Handynutzungsverhalten und untersuchte ihre Spermienqualität. In den Medien wird über das erschreckende Ergebnis der Studie berichtet:

Über 60 % der Probanden die angaben, mehr als eine Stunde am Tag zu telefonieren, wiesen eine ungewöhnlich niedrige Konzentration an Spermien auf. Nur bei rund 35 % der übrigen Männer fand man vergleichbare Werte. Noch ausgeprägter verhielt es sich bei Männern, die telefonierten, während das Handy am Ladegerät hing.

Außerdem ergab die Studie, dass sich die Zahl der Spermien bei rund 47 % derjenigen untersuchten Männer verringerte, die ihr Telefon in der Nähe des Lendenbereichs trugen (weniger als 50 cm entfernt) – beispielsweise in der Hosentasche. Nur 11,1 % der Gesamtpopulation der Männer weisen laut der Studie eine ähnlich niedrige Spermienkonzentration auf.

Bisher kein schädlicher Einfluss nachgewiesen und kein Wirkmechanismus bekannt

Laut dem deutschen Bundesamt für Strahlenschutz konnte bisher kein schädlicher Einfluss der elektromagnetischen Felder des Mobilfunks auf die männliche Fruchtbarkeit nachgewiesen werden. Unterhalb der geltenden Grenzwerte ist auch kein plausibler Wirkmechanismus bekannt. Ist mit dieser neuen Studie nun ein Durchbruch gelungen?

Dass diese Studie die Gesamtbewertung ändert, ist unwahrscheinlich. Es werden zwar immer wieder Studien veröffentlicht, die einen Zusammenhang zwischen intensiver Handynutzung und verminderter Fruchtbarkeit zeigen wollen, doch dabei handelt es sich nur um Beobachtungsstudien. Probanden werden nicht, wie in aussagekräftigen klinischen Studien üblich, in eine Interventionsgruppe und eine Kontrollgruppe eingeteilt, sondern nur zu ihrem Nutzungsverhalten befragt. Bekannte Risikofaktoren, für die ein negativer Einfluss auf die Spermienqualität bereits nachgewiesen ist, werden dabei meist außer Acht gelassen. Dazu zählen etwa hohes Alter, der Sozialstatus, Alkohol- und Tabakkonsum sowie Stress. Gerade Vielnutzer von Mobiltelefonen üben häufig intensive berufliche Tätigkeiten aus, wo sie auch vermehrt Stress ausgesetzt sind. Es ist also wahrscheinlich, dass die verminderte Fruchtbarkeit auf die Lebensweise zurückzuführen ist.

Die Männer waren Patienten mit bekannten Fruchtbarkeitsproblemen

Die fehlende Unterscheidung zwischen Korrelation und Kausalität ist bei weitem nicht das einzige Manko der israelischen Studie. Der hohe Anteil an Männern mit verminderter Spermienqualität mag zwar auf den ersten Blick beängstigend wirken, doch er erscheint in einem völlig anderen Licht, wenn man berücksichtigt, wie die Studienteilnehmer rekrutiert wurden. Die 106 Männer waren allesamt Patienten an einer Fruchtbarkeitsklinik, in die sie zur Erstellung eines Spermiogramms überwiesen wurden. Wie sich später herausstellen sollte, hatten ganze 43 % der Studienpopulation eine verminderte Spermienkonzentration.

Vor der Anfertigung ihres Spermiogramms mussten die Teilnehmer einen Fragebogen ausfüllen, in dem demographische Merkmale, der Gesundheitszustand und das Handynutzungsverhalten abgefragt wurden. Von den 106 Männern wurden 26 als starke Raucher, wegen ihres Alkoholkonsums oder aufgrund von gewissen Vorerkrankungen ausgeschlossen, sodass schließlich nur die Angaben von 80 Männern in die Auswertung einflossen. Diese geringe Teilnehmerzahl ist dabei gar nicht das größte Problem der Studie.

Das Problem der „Multiple Comparisons“

Über das Nutzungsverhalten wurde eine Vielzahl an Parametern erhoben und 13 davon schließlich ausgewertet:

Use of hands-free set, Total daily talking time, Prefer using wire phone at work, Prefer using wire phone at home, Talking in places with low telecommunication, Work in a place with no telecommunication, Cell phone off while sleeping, Cell phone at a distance while sleeping, Cell phone at a distance while charging, Cell phone charging while staying in the room, Talking while charging phone, Cell phone distance from the groin, Use of wireless earphones

Im Text der Studie werden noch weitere Angaben genannt, die abgefragt wurden, etwa die Anzahl der benutzten Geräte, Dauer des Ladevorgangs oder Jahre des Handybesitzes. Wegen der geringen Stichprobengröße konnten diese allerdings nicht analysiert werden. Die Spermienqualität wurde anhand von vier Parametern nach WHO-Kriterien bewertet: Volumen, Konzentration, Motilität und Morphologie. Auch hier konnte ein Parameter nicht bewertet werden, da nur ein Teilnehmer eine veränderte Morphologie aufwies.

In einer univariaten Analyse wurden Zusammenhänge zwischen je einem Parameter zur Handynutzung und einem zur Spermienqualität entweder mit einem Chi-Quadrat-Vierfeldertest oder einem t-Test untersucht. Insgesamt wurden also 13 mal 3 = 39 Hypothesen auf dem Datensatz von 80 Patienten getestet.

Dieses Vorgehen erinnert stark an die Scheinstudie zur Schokoladen-Diät, bei der mit demselben statistischen Trick gearbeitet wurde: Werden nur genug Parameter untersucht, wird irgendwann ein statistisch signifikantes Resultat dabei sein. Ein solches Studiendesign ist ein Patentrezept für falsch-positive Ergebnisse.

Bei einem statistischen Test kann man den Fehler begehen, einen Zusammenhang zwischen zwei Merkmalen anzunehmen, obwohl gar keiner besteht (Alpha-Fehler). Für einen einzelnen Test wird meist ein Signifikanzniveau von 5 % verwendet, das heißt der Test ist so gestaltet, dass die Wahrscheinlichkeit für einen solchen Irrtum 5 % beträgt. Bei einem von 20 Tests werden wir also ein signifikantes Ergebnis erhalten, das auf zufälligen Schwankungen beruht.

Durch multiples Testen von verschiedenen Hypothesen auf derselben Stichprobe erhöht sich diese Wahrscheinlichkeit. Man spricht hier von einer Alphafehler-Kumulierung. Bei angenommener Unabhängigkeit und einem Signifikanzniveau von 5 % beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein falsch-positives Ergebnis zu erhalten, Bei angenommener Unabhängigkeit und einem Signifikanzniveau von 5 % beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein falsch-positives Ergebnis zu erhalten: P(mind. ein falsch-positives Ergebnis) = 1 – 0,95^n.

Für die israelische Studie mit 39 getesteten Hypothesen beträgt dieser Wert ansehnliche 86,5 %. Die Studienautoren selbst sehen das Ganze nicht so eng:

The main strength of the current study is the detailed information on many characteristics of cell phone usage. (…) This wide spectrum of usage aspects is, in our opinion, one of the unique merits of the work.

Signifikante Ergebnisse bei unplausiblen Merkmalen

Statistisch signifikante Einzelergebnisse erhielten die Forscher beim moderaten Rauchen (p = 0,021), bei einer täglichen Gesprächszeit von über 1 Stunde (p = 0,04) sowie beim Telefonieren während des Ladevorgangs (p = 0,02), jeweils nur in Bezug auf die Spermienkonzentration. Rauchen ist ein bekannter Risikofaktor, bei den anderen beiden signifikanten Ergebnissen hingegen deutet vieles darauf hin, dass es sich um statistische Artefakte handelt. Diese beiden Parameter sind nicht gerade die plausibelsten, wenn es um die Schädigung von Samenzellen geht. Wie soll sich eine geringfügige Erwärmung des Ohrs auf die Spermienproduktion auswirken? Nachvollziehbarer wäre etwa Telefonieren mit Freisprecheinrichtung bei eingestecktem Handy, wenn es sich also in der „Gefahrenzone“ befindet und sendet. Warum es – abgesehen von einem defekten Ladekabel – schädlich sein soll zu telefonieren, während das Handy lädt, bleibt fraglich. (Die Autoren vermuten „emittierte Energie der externen Stromquelle“ sowie eine höhere Sendeleistung, weil das Gerät nicht Energie sparen braucht.) Wenn man viel telefoniert, sein Handy öfters lädt und selbst dann noch telefonieren muss, ist das vielleicht eher ein Hinweis auf einen stressigen Alltag als auf einen Einfluss des Mobilfunks. Den Probanden wurden zwar Fragen zum Lebensstil gestellt, ein Stresslevel wurde jedoch nicht ermittelt.

Warum die Forscher genau 1 Stunde tägliche Gesprächszeit als Grenze der Schädlichkeit wählten, ist nicht beschrieben. Im Fragebogen konnten die Teilnehmer noch zwischen den vier Kategorien <30 Minuten, 30-60 Minuten, 60-120 Minuten und >120 Minuten wählen. War hier möglicherweise „p-hacking“ am Werk? Das heißt: Wurde diese Grenze im Nachhinein so gewählt, dass ein signifikanter p-Wert erzielt werden konnte?

Berichtet wird auch über nicht-signifikante Merkmale

Ein weiteres Ergebnis, das in der Studie detailliert beschrieben wird, betrifft den Abstand des Mobiltelefons zum Lendenbereich. In den Presseberichten wird dieses Merkmal sehr häufig genannt, obwohl es nicht einmal signifikant war. Von den Männern, die ihr Handy innerhalb von 50 cm tragen, hatten 47,1 % eine verringerte Spermienkonzentration. Verglichen mit 43 % in der gesamten Studienpopulation ist das kein großer Unterschied. Deutlicher wird der scheinbare Einfluss des Abstandes, wenn man ihn in Relation zu jenen Probanden setzt, die ihr Handy nicht so nahe am Körper tragen. Unter diesen Männern wiesen nur 11,1 % eine verringerte Spermienkonzentration auf. Dieser Vergleich ist jedoch sehr gewagt, da nur neun Teilnehmer einen größeren Abstand zum Lendenbereich berichteten, während der Rest das Handy nahe am Körper trägt. Die Angabe „11,1 %“ täuscht hier folglich eine Genauigkeit vor, die nicht gegeben ist: Die 11,1 % sind genau einer von den neun Männern in dieser kleinen Untergruppe.

Von Einzelergebnissen wird auf die allgemeine Gefährlichkeit geschlossen

Welche Verhaltensweisen nun tatsächlich signifikant waren, scheint gar keine so große Rolle zu spielen. Dass etwas Signifikantes dabei war, belegt für die Studienautoren die generelle Gefährlichkeit von Mobiltelefonen. So warnen diese nicht nur davor, zu lange oder gar während des Ladevorgangs zu telefonieren, sondern empfehlen auch, das Handy in die Hemd- statt in die Hosentasche einzustecken, nicht neben dem Handy zu schlafen sowie die Verwendung von Headsets oder Freisprecheinrichtungen. Wenn man unabhängig vom tatsächlichen, teils zufallsbehafteten Ergebnis vor eh allem warnt, hat man zumindest eines erreicht: Reproduzierbarkeit.

Missverständliche Medienberichte

Die Medien berichten nicht nur über nicht-signifikante Ergebnisse, sondern begehen noch weitere Fehler, die Missverständnisse erzeugen:

  • Handy-Strahlung verringert Spermien um die Hälfte
    Nein, die Forscher haben nicht herausgefunden, dass sich die Zahl der Spermien um 50 % verringert hat, sondern dass 50 % der Männer mit gewissem Nutzungsverhalten abnorme Konzentrationswerte hatten. Das ist nicht überraschend, da in der Studienpopulation bestehend aus Patienten mit Fruchtbarkeitsbeschwerden ohnehin 43 % dieses Problem hatten.
  • Ein Jahr lang wurden 106 Männer zu ihrer Handynutzung befragt und zugleich die Qualität ihrer Spermien untersucht.
    Die Männer wurden nicht ein Jahr lang begleitet, sondern einmalig befragt und einmalig untersucht. Es hat eben ein Jahr lang gedauert, bis die 106 Patienten für die Studie gewonnen werden konnten.
  • Nur 11,1 % der Gesamtpopulation der Männer weisen laut der Studie eine ähnlich niedrige Spermienkonzentration auf.
    In der Studie wird nicht mit der gesamten Studienpopulation oder gar mit der Allgemeinbevölkerung verglichen, sondern mit exakt einem Mann (= 11,1 %) aus einer Untergruppe von nur neun Männern, die ihr Handy weiter als 50 cm vom Lendenbereich tragen.

Noch dramatischer geht es in britischen Medien zu. Dort wird davon gesprochen, Handys würden Sperma zum Kochen bringen. Mittlerweile bemüht sich auch der britische National Health Service um Aufklärung.

 

Kommentare (11)

  1. #1 MartinN
    25. Februar 2016

    Wenn das mit der Strahlung stimmen würde, dann hätte jeder hier ein Problem. Denn Versicherer würden von heute auf morgen sofort den Versicherungsschutz beenden….Bisher ist die Schädlichkeit von Handystrahlen nicht bewiesen.

  2. #2 noch'n Flo
    Schoggiland
    25. Februar 2016

    @ MartinN:

    Denn Versicherer würden von heute auf morgen sofort den Versicherungsschutz beenden…

    Nicht nur das – in den USA mit ihrem sehr speziellen Produkthaftungsrecht hätte es schon vor Jahren Sammelklagen mit Forderungen nach hunderten Milliarden Dollar gegen die Handyhersteller gegeben. Kein einigermassen geschäftstüchtiger Anwalt würde sich eine solche Chance entgehen lassen.

  3. #3 WolfgangM
    25. Februar 2016

    als Fernsehapparate aufgekommen sind, ist die Geburtenrate zurückgegangen. Und als die Mobiltelefone aufgekommen sind, wurde mehr telefoniert und die Geburtenrate geht weiter zurück. Und wenn Jugendliche pro Monat ca 3000 SMS verschicken, geht ja auch viel Zeit drauf.
    So gesehen senken Mobiltelefone wahrscheinlich schon die Geburtenrate- keine Zeit mehr für Sex.

  4. #4 MX
    25. Februar 2016

    Reißerisches Thema, schwache Studie, starke Medienresonanz – das Übliche. Daher zu Recht der Hinweis auf die Schoko-Joke-Studie.

  5. #5 Daniel Kürner
    25. Februar 2016

    Ich sehe gerade, dass eine Formel fehlt!
    Bei angenommener Unabhängigkeit und einem Signifikanzniveau von 5 % beträgt die Wahrscheinlichkeit, ein falsch-positives Ergebnis zu erhalten:
    P(mind.1 falsch-positives Ergebnis) = 1-(0.95)^n

  6. #7 Karl Mistelberger
    25. Februar 2016

    “A huge range of science projects are done with multiple regression analysis. The results are often somewhere between meaningless and quite damaging.

    I hope that in the future, if I’m successful in communicating with people about this, that there’ll be a kind of upfront warning in New York Times articles: These data are based on multiple regression analysis. This would be a sign that you probably shouldn’t read the article because you’re quite likely to get non-information or misinformation.”

    Mehr: https://edge.org/conversation/richard_nisbett-the-crusade-against-multiple-regression-analysis

  7. #8 Wer finanziert sowas?
    14. März 2016

    Wollte einmal eine Dissertation darüber schreiben, dass Computerviren für Kleinkinder ungefährlich sind. Leider hat niemand die Forschungsarbeit finanziert und es gab auch noch kein Studium zur IT-Medizin. Ich hatte auch keine Kontakte zur Szene um einen Hype darüber loszutreten.

  8. #9 Bullet
    14. März 2016

    Nennt man wohl “Pech”.

  9. #10 Pech
    15. März 2016

    Ja, danke

  10. #11 Bullet
    16. März 2016

    Gern.