Die „Pyramiden“ von Visoko in Bosnien sind laut ihren Fans die ältesten der Welt. Wissenschaftliche Belege, dass die kantigen Bergspitzen von Menschenhand gemacht sind, gibt es nicht. Das verhindert nicht, dass sich um die angebliche Sensation ein bizarrer Eso-Kult entwickelt. Im Namen des Geldes. Und im Namen der Größe des Landes.
Ein Gastbeitrag von Christoph Baumgarten
Der Schäferhundwelpe scheint seine Rolle gut anzunehmen. Aus der Entfernung verbellt er uns aufgeregt. Als wir ihm und dem Schäfer näherkommen, kommt der Welpe durch. Er beschnüffelt und bespringt uns freudig. Der Schäfer muss ihn ermahnen, mit ihm zu kommen. Es gilt eine Schafherde auf dieser fast idyllisch grünen Weide zu hüten.
Eine Gruppe Camping-Touristen beendet ihre Besprechung. Bevor wir sie erreichen, verziehen sie sich.
„Schau“, sagt mein Fremdenführer Alen aus Sarajevo und zeigt auf den Berggipfel vor uns. „Das ist die Spitze der Pyramide der Sonne. Die rechte Kante weicht nur um ein halbes Grad ab. Deswegen sagen die Kritiker, das ist ein Berg und keine Pyramide.“
Das scheint sehr milde ausgedrückt. Alen ist auch davon überzeugt, dass wir auf der ältesten und größten Pyramide der Welt stehen. Dass er eine Pyramidenspitze sieht, überrascht wenig.
Jemand, der nichts von dieser „Pyramide“ weiß, sieht hier den Kogel des Bergs Visočica, dessen Seite entfernt an ein Dreieck erinnert.
Nur aus der Entfernung und aus einer bestimmten Perspektive ähnelt der Berg einer Pyramide. Das trifft auf drei weitere Berge der Umgebung zu, die „Pyramide des Mondes“, die „Pyramide des Drachen“ und die „Pyramide der Liebe“. Sie sind etwas niedriger.
Dass zwei Hänge eines Berges aus Dreiecken bestehen, die im rechten Winkel aneinandergrenzen, ist keine sehr häufige Formation. Aber auch nicht rasend ungewöhnlich. Bügeleisenform nennen das Geologen. Man findet sie auf der ganzen Welt.
Den „Pyramiden“-Jüngern ist das egal.
12- bis 20.000 Jahre alt soll die „Pyramide der Sonne“ sein und 200 oder 220 Meter hoch, behauptet ihr angeblicher Entdecker, Semir Osmanagić, den man meistens Sam nennt. Seine Mitarbeiter und Bewunderer sprechen von ihm als Dr. Osmanagić.
Osmanagić ist Betriebswirt und Manager.
Auf der Spitze stehen die Ruinen eines Kastells. Visoko war im Mittelalter kurz Hauptstadt des Königreichs Bosnien.
Der Aufstieg über schmale, gewundene und steile Waldpfade dauert eine Viertelstunde. Ich keuche. Alen ist Bergwanderer und Bergführer und amüsiert sich ein wenig über die Mühen des Städters, der sich heraufquält.
Burcu, ebenfalls Bergwanderin, zeigt sich verständnisvoll. Die Istanbulerin ist ohne Reisegruppe hier. Sie hat sich Alen und mir nach der Führung durch den Tunnel angeschlossen. Sie ist nur wegen der „Pyramiden“ nach Bosnien gekommen.
Alen hüpft auf den Mauerrest, der am weitesten in die Landschaft hinausragt. Kurz vor dem Abgrund bleibt er stehen und dreht sich zu mir. „Von diesem Punkt aus geht ein Energiestrahl hinauf in den Himmel. Er wird immer stärker, je weiter er weg von diesem Punkt ist. Das hat man gemessen.“
Dass die Aussage allen bisher gemachten naturwissenschaftlichen Beobachtungen widerspricht, geben sogar die Anbieter von Touren zu den „Pyramiden“ offen zu. Das sei eben das Mysterium.
Im Tunnel in einem der nahegelegenen Hügel, der angeblich zu den angeblichen Pyramiden gehört, bemüht man sich weitaus mehr darum, wissenschaftlich zu klingen.
„Wir sind hier in einem 24.000 Jahre alten Tunnelsystem“, sagt Dženana, unsere Tunnelführerin. Sie arbeitet für Osmanagić. „Wir denken, dass es eine Verbindung ist zwischen der Pyramide der Sonne und der Stadt Visoko“.
Seltsam, dass die „Pyramide“ erst 12.000 Jahre alt sein soll. Oder auch 20.000. Je nachdem, wen man fragt.
An uns zwängen sich zwei Arbeiter mit leeren Scheibtruhen und Schaufeln in Richtung Hügelinneres. „Das System ist mit Konglomeratgestein aufgefüllt worden, nachdem es verlassen worden war“, erklärt Dženana. „Die Arbeiter legen es sukkzessive frei. In ein paar Jahren werden wir wissen, ob Dr. Osmanagić Recht hatte.“
Nicht, dass jemand auf die Idee kommen könnte, die Arbeiter würden am Ende einen Tunnel graben…
Die Bearbeitungsspuren an den recht engen Wänden wirken frisch.
Zehn Minuten später kommen die Bauarbeiter mit einer vollen Scheibtruhe an uns vorbei. Diesmal bewegen sie sich Richtung Freies.
Etliche der bulgarischen Touristen, mit denen Burcu und ich durch den Tunnel geführt werden, hüpfen nach vor und fotografieren die Arbeiter.
Sie sind mit dem Bus aus Sofia angereist. Eine gut achtstündige Fahrt. Nur der Pyramiden wegen.
„Ich habe gehört, das hier ist der energetischste Ort der Welt“, erklärt mir eine junge Frau aus Sofia.
Dženana drückt aufs Tempo. „Der Tunnel ist besonders gut für die Gesundheit. Die Luft hat eine sehr hohe Konzentration negativer Ionen. Das tötet Viren und Bakterien. Ein längerer Aufenthalt hier kann Krankheiten heilen“, sagt sie, als wäre es eine Sensation.
Die bulgarischen Touristen schauen begeistert.
Wir sind hier im Gebirge, wenn auch nicht im hochalpinen Bereich. Es wäre fast sensationell, wenn die Luft hier nicht ionisiert wäre. Bergluft ist nun mal ionisiert. Und kann antibakteriell wirken. Hier wie anderswo im Gebirge.
„Die Luft hier ist auch sehr energetisch“, verrät uns Dženana. „An dieser Stelle werden 25.000 Bovis gemessen. Das ist die Energieeinheit für Lebewesen. Weiter drinnen, beim See, sind es 40.000. Das ist einer der höchsten Werte, der je gemessen wurde.“
Bovis sind eine Fantasieeinheit aus der Esoterik, die vor allem in der Radiästhesie verwendet wird.
Die Gruppe vor uns – die andere Hälfte der Busladung aus Sofia – zwängt sich an uns vorbei Richtung Ausgang.
„Jetzt ist auch der Stein frei“, zeigt sich Dženana erfreut. Sie führt uns in eine etwas geräumigere Kammer mit Holzbänken. Vermutlich ebenfalls einfach nur „freigelegt“.
„Hier könnt ihr fünf Minuten sitzen und nachdenken“, sagt Dženana. „Dürfen wir auch meditieren?“, fragt der Typ, dessen Naturlocken unter dem Helm hervorquellen. „Ja, auch meditieren“, sagt sagt Dženana.
Das sei sogar eine gute Idee.
In der Kammer liegt ein größerer Steinbrocken. Eis und Wasser haben über Jahrtausende seine Kanten abgerundet. So sieht es zumindest für einen geologisch halbgebildeten Laien aus.
„Der Megalith ist eine Keramik“, erklärt Dženana. „Die Kultur, die die Tunnel gegraben hat, hat sie vermutlich hergestellt. Sie ist innen hohl. Wir wissen nicht, wozu die Keramik gedient hat. Vielleicht war sie ein Grabstein.“
Zum Meditieren solle man die Hände darauflegen, sagt unsere Führerin. Und die Energie durch sich fließen lassen.
Fast die gesamte Gruppe macht das und schließt die Augen. Nur drei berühren den Steinbrocken nicht. Dem Gesichtsausdruck nach meditieren auch sie.
Nach ein paar Minuten steht hinter uns eine weitere Gruppe und wartet auf Einlass in die Meditationskammer. Dženana beendet die Pause.
„Wie fühlen sich eure Hände an“, fragt sie? „Warm“, sagt verzückt eines unserer Gruppenmitglieder. „Ja genau, die Keramik selbst ist nicht kalt und nicht warm. Das kommt von der Energie.“
Überhaupt, man sei hier sehr nah am natürlichen Zustand, klärt uns unsere Tunnelführerin auf. „Die Schumann-Resonanz hier und auf den Pyramiden ist 7,5 Hertz. Das ist fast genau die Schwingung unserer Erde“, sagt sie auf Nachfrage. „Aber heute ist die Schwingung da draußen viel höher, bei 15 Kilohertz. Das kommt vom Internet, der Technologie und dem ganzen Stress.“
Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihre Messeinheiten im Griff hat.
Wir kommen zum Teich oder See. Eine unterirdische Pfütze mit Bergwasser in einer der wasserreichsten Gegenden Europas. Für Dženana ein weiterer Beweis, wie besonders dieser Tunnel ist.
Auch dieses Wasser sei ionisiert, meint sie. Und voller Energie. Sie steht vor einer Schautafel mit Fotos der berühmten Kristallformen von Masaru Emoto. Der hat das Wasser untersucht, sagt sie. Und erzählt uns seine Theorie in Kurzform auf.
„Dieses Wasser jedenfalls ist belebt, das zeigt sich in seiner Kristallform. Es speichert all die positiven Informationen aus diesem Tunnel und wirkt daher auch gegen Krankheiten.“
Das will man mit einem Experiment im Altersheim der nahe gelegenen Stadt Zenica bewiesen haben. Die Bewohner hätten mehrere Wochen lang Tunnelwasser statt des Wassers aus der Stadt („das ist tot“) bekommen und hätten sich merklich besser gefühlt, steht auf einer Schautafel neben dem Teich.
Über eine Kontrollgruppe oder Ähnliches steht kein Wort.
Ein Wiener namens Andreas behauptet auf der Homepage der „Pyramiden“-Stiftung gar, das Wasser habe seinen Prostata-Tumor geheilt.
„Ihr könnt das Wasser auch im Souvenirshop kaufen“, sagt Dženana. „Wir füllen es in schwarzen Flaschen ab, damit es sich fühlt wie in seiner natürlichen Umgebung im Tunnel. Damit vergisst es seine Informationen nicht so schnell.“
Es übertrage auch seine Informationen auf anderes Wasser. „Man muss nur einen Tropfen dazu gießen und schon teilt das gesamte Wasser seine positiven Eigenschaften.“
Also nicht ganz so magisch wie Grander-Wasser, schießt es mir durch den Kopf. Dort reicht’s, wenn es vorbeifließt.
Nach zwei Stunden kommen wir ins Freie. Die halbe Reisegruppe stürzt in den Souvenirshop.
Ich suche Alen. Er ist mein Reiseführer für den Rest der Tour und hat mich aus Sarajevo hergefahren.
Auf dem Weg zum Auto komm ich an den Ständen in der Nähe des Tunneleingangs vorbei. Kristalle werden hier verkauft, energetisch oder nicht, Schaffelle und Lederwaren aus der bekannten Lederindustrie von Visoko und Holztafeln mit Bildern von Maja-Stufenpyramiden drauf.
So sollen laut Sam Osmanagić die „Pyramiden“ von Visoko früher ausgesehen haben.
Bevor er die „Pyramiden“ „entdeckte“, hat sich Osmanagić jahrelang mit Maja-Mythologie beschäftigt. Zwei Jahre vor dem „Fund“ von Visoko veröffentlichte er in Bosnien auch ein Buch mit dem Titel „Die Welt der Maja“.
Hält einen Standbetreiber nicht davon ab, sein Geschäft „Kod Faraona“ zu nennen. „Beim Pharao“. Hotels und Restaurants in der Gegend verwenden lieber Bilder der Pyramide von Gizeh oder auch mal ein Konterfei Tut-Anch-Amuns.
Als ich ein Foto von einem Souvenirhändler mache, setzt der sich einen Hut auf, bevor ich abdrücken darf. Ganz wie Osmanagić, der nie ohne Hut auftritt. Vermutlich nicht zufällig erinnert sein Auftritt an Indiana Jones.
„Wie hat’s dir gefallen“, fragt mich Alen. „Nicht uninteressant. Aber viel Esoterik“, sage ich wahrheitsgemäß.
„Ja, da hast du Recht. In den letzten Jahren hat sich Osmanagić sehr viel mit diesen Leuten abgegeben. Es kommen immer mehr von denen hierher. Das ist schade. Das hat doch nichts damit zu tun. Es macht alles kaputt, was er entdeckt hat.“
Diese Kritik hört man auch von Sympathisanten nicht nur vereinzelt.
Dabei lebt die kärgliche Tourismusindustrie rund um Visoko vor allem von den Esos. Archäologen, Geologen und Historiker und historisch ernsthaft Interessierte kommen seit einem Jahrzehnt kaum mehr.
Für die Wissenschaft ist Osmanagićs These von den „Pyramiden“ eindeutig widerlegt. Den Esoterikern ist das egal.
Nur kommen selbst die nicht so zahlreich wie Osmanagić und Fans hoffen. Geld lassen sie auch wenig hier. Einmal Mittagessen in Visoko, Souvenirs um fünf oder zehn Euro und ein, zwei Übernachtungen im nahe gelegenen Sarajevo. Und wieder heim. Mehr gibt’s hier auch nicht zu tun.
Der deutsche Psychologe und Journalist Sebastian Bartoschek geht davon aus, dass die „Pyramiden“ der Region weniger Geld einbringen als erhofft. „Viele Touren, die etwa von Sarajevo aus nach Visoko führen sollen, finden gar nicht statt, weil es zu wenige Teilnehmer gibt“, schildert er seine Erfahrungen.
Der Einzige, der profitiert, ist Osmanagić. Die Karte für die Führung durch die Tunnel kostet 20 bosnische Mark. Das sind zehn Euro, für Bosnien ein stolzer Preis. Offiziell fließt das Geld in eine gemeinnützige Stiftung, die weitere Grabungen finanzieren soll.
Für die „Ausgrabungen“ am Fuß der „Pyramide“ ist extra zu bezahlen. Nur heute ist der Ort wegen Regens geschlossen. Viel zu sehen gebe es hier nicht. Die Behörden haben vor zehn Jahren untersagt, dass weitere Grabungen stattfinden.
Amateurarchäologe Osmanagić könnte mit seinem Eifer Überreste neolithischer und antiker Ansiedelungen zerstören, die hier vermutet werden, lautet die Befürchtung.
Aber es könnte ja noch werden mit den Touristen, hofft Alen. Das sei das Positive an der Sache.
Und da wäre noch die politische Komponente.
Vor allem in den ersten Jahren rund um den „Pyramiden“-Kult hat Osmanagić die Unterstützung führender bosnischer Politiker genossen.
Bosnien sei die Wiege der europäischen Zivilisation, lautet seine These. Das würden die Pyramiden beweisen. Sie seien von einer Kultur in der Eiszeit erbaut worden, die seitdem verschwunden sei.
Osmanagić propagiert ein Modell zyklischer Zivilisationen – durchaus ähnlich dem von Anthroposophen und Theosophen. Nur, soweit dem Autor bekannt, ohne Rassentheorie, neuerdings freilich angereichert mit Spekulationen, Außerirdische hätten etwas mit der Sache zu tun.
Dass sich laut Osmanagić in Bosnien die ältesten Reste einer Hochkultur weltweit finden, macht in den Augen vieler die heutigen Bosnier wenn nicht gerade zu Nachfahren dieser präantiken Menschen so doch zu den Hütern ihres historischen und kulturellen Erbes.
In einem ethnisch und politisch zerrissenen Land mit einer Arbeitslosigkeit von um die 30 Prozent fällt das auf fruchtbaren Boden. Es stellt so etwas wie Identität her, die mit dem Ende des Sozialismus und dem Bürgerkrieg verloren gegangen ist.
Ähnlich revisionistische Diskurse findet man in allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Mal bizarr wie die angebliche Abstammung von den antiken Makedonen in Mazedonien, mal aggressiv und apologetisch früheren Verbrechen gegenüber wie in Kroatien und Serbien.
Dagegen würde sich der Pyramidenkult nahezu harmlos ausnehmen. Hätten ihn nicht auch manche bosniakische (muslimische) Nationalisten für sich entdeckt, die die heutigen bosnischen Muslime für die eigentlichen, die wahren Bosnier halten, für Nachfahren der bosnischen Adeligen im Mittelalter.
Nachdem 2006 die erste Kontroverse um Osmanagićs „Entdeckung“ hochkochte, beschimpften und bedrohten sie Wissenschaftler, die die Pyramiden-These öffentlich zurückwiesen.
Diese Aufregung dürfte mittlerweile abgeflaut sein. Wie auch die Berichterstattung, national wie international.
Vor einem Jahr reichte es im deutschsprachigen Raum noch für eine Doku aus der wissenschaftlich nicht ganz einwandfreien Reihe „Menschen, Mythen und Legenden“, gesponsert von Red Bull TV. Irritierenderweise läuft die kritiklos affirmative Doku auch am deutschsprachigen Qualitätssender phoenix. Warum, konnte oder wollte der Sender nicht beantworten.
Dafür scheint Osmanagić Stammgast auf Eso-Sendern und in einschlägigen Zeitschriften und Portalen zu sein.
Was bleibt, sind eine Handvoll Touristen. Und Osmanagićs Tourneen durch Eso- und Alternativ“wissenschafts“kongresse der Welt samt Personenkult, der an Erich von Däniken heranreicht.
Vielleicht ist es nicht das Projekt, das die bosnische Gesellschaft braucht, um auf eine bessere Zukunft zu hoffen.
Christoph Baumgarten ist Mitglied der GWUP und berichtet auf seinem Blog Balkan Stories über Menschen, Kultur und Neuigkeiten aus den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
Kommentare (14)